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Die Kritiker: «Neufeld, mitkommen!»

Ein packendes Drama, das zum Nachdenken anregt und für Gesprächsstoff sorgt. Ein sensibles Thema wird in ungewohnter Form erzählt und weiß durch realitätsnahe Figuren und deren Umsetzung zu überzeugen.

Inhalt


Hinter den Kulissen

  • Musik: Jakob Ilja
  • Kamera: Eckhard Jansen
  • Buch: Kathi Liers und Jana Simon
  • Regie: Tim Trageser
  • Produzent: Peter Hartwig
  • Produktionsfirma: kineo Filmproduktion Peter Hartwig
Nick Neufeld ist von seinen Mitschülern nicht nur gemobbt worden, sie haben ihn geschlagen, grausam gedemütigt und misshandelt. Er konnte mit niemandem darüber reden. Die Mitschüler haben nichts mitbekommen? Die Lehrer schauten weg? Als seine Eltern endlich seine Qualen bemerkten, zeigten sie die jugendlichen Täter an. Aber das Gericht verhängte eine milde Strafe, es sind ja schließlich Jugendliche. Und nun muss das Leben weitergehen. Nick soll wieder zur Schule gehen – zusammen mit seinen Peinigern in eine Klasse. Beate und Martin, Nicks Eltern, sollen weiter leben und arbeiten in ihrer Kleinstadt – mit den Jungen, die ihren Sohn drangsaliert haben, mit deren Eltern, mit den Lehrern, mit allen, die geschwiegen haben. Der Horror endet nicht mit dem Schließen der Gerichtsakten: Für die Neufelds beginnt ein Spießrutenlauf und sie fragen sich, wer denn nun eigentlich Täter und wer Opfer ist. Die Monate nach der Tat werden zur Zerreißprobe für die ganze Familie.

Darsteller


Christina Große («Der kleine Mann») als Beate Neufeld
Ole Puppe («Abschnitt 40») als Martin Neufeld
Ludwig Skuras («Das geteilte Glück») als Nick Neufeld
Ursula Karusseit («In aller Freundschaft») als Hilde Neufeld
Greta Bohacek («Keine Zeit für Träume») als Lena Steinke
Sanne Schnapp («Wickie und die starken Männer») als Sabine Lenz

Kritik


Mobbing ist und bleibt ein sensibles Thema in der Gesellschaft. Die Fälle an Deutschlands Schulen kommen öfter vor als Eltern und Lehrern lieb sein dürfte und dabei gibt es eine enorme Dunkelziffer von Vorfällen, die erst gar nicht ans Licht kommen. Die Geschichte, die Regisseur Tim Trageser für Das Erste erzählt, geht allerdings weit über das klassische Mobbing in Form von Beleidigungen und Ausgrenzung hinaus. Das Erschreckende: Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit und es ist kaum vorstellbar, dass ein Junge so unter seinen Mitschülern derart leiden musste wie Nick in diesem bedrückend-realitätsnahen Drama, das auf unkonventionelle Art über dieses Schicksal berichtet. Die Demütigungen bekommt der Zuschauer nämlich gar nicht zu sehen, sondern nur in Erzählungen geschildert, schließlich liegen sie zu Beginn des Films bereits einige Zeit zurück. Allerdings ist eine bildhafte Darstellung der Peinigungen hier auch nicht nötig, um mit den Betroffenen mitzufühlen.

Den Betroffenen? Ja, denn das Schicksal des jungen Nick Neufeld belastet nicht nur ihn, sondern lässt auch seinen Eltern keine ruhige Minute. Der Film beginnt mit privaten Kameraaufnahmen der Neufelds und zeigt eine glückliche Familie, die mit Nick und seinen Freunden ausgelassen Geburtstag feiert. Dann Standbild, Abblende. Bereits in der folgenden Szene, die wie die meisten folgenden bereits eine gewisse Schwermut in sich trägt, wird klar: Diese Bilder sind lange her und die Realität ist weit vom einstigen Familienidyll entfernt. Die Unbeschwertheit vergangener Tage ist nicht mehr als Erinnerung und bedrückendes Schweigen herrscht beim Abendbrot.

Nicks Vater Martin unterbricht es mit belanglosem Gerede über fettreduzierten Käse. Ihm ist deutlich anzumerken, dass er „einfach nur unseren Alltag“ wieder will, doch es scheint keinen Alltag mehr zu geben. Dass Nicks Peiniger, die obendrein noch darüber lachen, mit Gartenarbeit „bestraft“ werden, klingt in den Ohren von Beate Neufeld wie blanker Hohn. Die völlig überforderte Mutter verliert sich mehr und mehr in Verzweiflung, bis sie schließlich an ihrem Kampf für eine in ihren Augen angemessene Bestrafung der Verantwortlichen zu zerbrechen droht. Besonders, dass die Täter unter Schuldgefühlen „leiden“ sollen, sieht sie als Vertauschen der Täter-Opfer-Rolle. Sowohl Christina Große, die die emotionale Ausweglosigkeit der Situation deutlich macht, als auch Ole Puppe, der als Vater immer wieder versucht Stärke zu demonstrieren, wissen in ihren Rollen zu gefallen, und harmonieren zusammen hervorragend.

Gerade in persönlich-emotionalen Szenen, wenn das Familienleben einer Zerreißprobe unterzogen wird, wissen die beiden zu überzeugen. Während Martin versucht die Probleme unter den Tisch zu kehren und vor Nachbarn und Arbeitskollegen keine Schwäche zu zeigen, unternimmt Beate alles um in der Schule oder bei der Aufsichtsbehörde die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Schuldzuweisungen untereinander und gegenüber den Lehrern sind die Folge. Zusätzlich wird Nick also neben den schlimmen Erinnerungen und der Angst vor der Schule, auch noch vom Auszug seines Vaters belastet. Die Familie befindet sich in einem Teufelskreis, in dem der Horror einfach kein Ende finden will. Der Junge selbst will nicht über seine Gefühle reden und hat keine Hoffnung in Aussicht, das Erlebte zu verarbeiten. Nur bei seiner kleinen Freundin und der liebevollen Psychiaterin taut er auf und kann sich öffnen. Die Eltern sind sowieso mehr mit sich selbst beschäftigt.

Hier liefert Ludwig Skuras als verschlossenes und gepeinigtes Opfer eine überzeugende Performance ab. Großmutter Hilde Neufeld, verkörpert von Ursula Karusseit, steht stellvertretend für die Naivität von dem Opfer nahestehenden Menschen. „Ich dachte das passiert immer nur den Dicken und Doofen“, sagt sie einmal etwas plakativ, aber dennoch spiegelt sie die Denkweise Vieler, selbst nie von Demütigungen Betroffener, wieder. Das kann doch gar nicht so schlimm sein. Da wehrt man sich doch.

Die größte Stärke des Films ist sicherlich das Schweigen. Und in knapp 90 Minuten wird viel geschwiegen. Die Darsteller schweigen genauso wie es auch die Mitschüler und Lehrer taten. Dieses gekonnt eingesetzte Stilmittel führt zur der bedrückenden Stimmung, die den gesamten Film durchzieht, und ihre Entladung in Gefühlsausbrüchen findet. Dabei wird die Stille lobenswerterweise nicht von penetranter Musik gestört. Stattdessen ist man mit der musikalischen Untermalung äußerst vorsichtig umgegangen. Dass das Bild hier und da etwas verwackelt ist, verstärkt den erschreckend-realistischen Eindruck noch, den der Film hinterlässt. Man hat tatsächlich das Gefühl, ähnliche Menschen wie die Charaktere zu kennen, was dem ausgezeichneten Buch geschuldet ist. Darauf zu erklären, wie Nick zum Opfer und seine ehemaligen Freunde zu Tätern wurden, wird aber leider verzichtet, was wohl der Filmdauer geschuldet sein dürfte.

Tim Trageser (Regie), Peter Hartwig (Produzent) und ihr Team haben hier ein absolut packendes Drama gedreht, das vor Allem durch seine stark umgesetzten, wirklichkeitsnahen Figuren überzeugen kann. Der Plan, die Geschichte des Opfers und seiner Familie nicht mit Nicks Misshandlung in der Schule, sondern anhand der Geschehnisse im Anschluss zu erzählen, geht voll auf und verhilft dem Film so zu psychologischer Tiefe. Schweigen ist hier tatsächlich Gold. Es wird klar, dass die Wunden, die das Erlebte bei Nick hinterlassen hat, zwar langsam vernarben, diese Narben aber sichtbar bleiben werden. Ein Film der nachhallt, zum Nachdenken anregt - und bleibenden Eindruck beim Zuschauer hinterlässt. Viel mehr kann man von einem Drama auch kaum verlangen.

Das Erste zeigt «Neufeld, mitkommen!» am Mittwoch, 2. April 2014, um 20.15 Uhr.
01.04.2014 12:06 Uhr Kurz-URL: qmde.de/69877
Christopher Schmitt

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Tags

Abschnitt 40 Das geteilte Glück Der kleine Mann In aller Freundschaft Keine Zeit für Träume Neufeld mitkommen! Wickie und die starken Männer

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