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Der Fernsehfriedhof: «Notruf» in echt und ohne Hans Meiser

Eine Reality-Reihe von Sat.1, welche die Wirklichkeit zeigte, wie sie wirklich war.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir des vielleicht umstrittensten TV-Trends der frühen 90er Jahre.

«Retter» wurde am 27. Oktober 1992 in Sat.1 geboren und bildete den vorläufigen Höhepunkt einer Welle aus Reality-Shows, die zu dieser Zeit über das deutsche Fernsehen hereinbrach. Ausgelöst wurde dieser Trend durch das Tele 5-Magazin «Polizeireport Deutschland», das ab Januar 1992 von realen Verbrechen berichtete und auch die zuständigen Polizisten, Opfer und Täter dabei mit einbezog. Rund einen Monat später schickte RTLplus die erste Ausgabe von «Notruf» auf Sendung. Darin präsentierte Hans Meiser gefährliche Unfälle und riskante Rettungsaktionen, die sich wirklich zugetragen hatten. Im Mai legte der Kanal dann mit «Auf Leben und Tod» noch ein weiteres Format nach, in dem diesmal echte Polizeieinsätze gezeigt wurden.

Weil sich die neuen Reihen allesamt als sehr erfolgreich erwiesen, wollte offenbar auch Mitkonkurrent Sat.1 auf den rasenden Zug aufspringen und schickte im Oktober mit «Retter» eine weitere Variante auf den Schirm, welche die Entwicklung noch einmal steigern sollte. Ähnlich wie bei «Notruf» wurden auch dort wirklich stattgefundene Rettungseinsätze von Notärzten und der Feuerwehr präsentiert, doch wurden diese nicht von Darstellern oder Polizisten nachgestellt, sondern waren echte Aufnahmen von echten Unfällen. Daher wurde die Produktion im Programm auch mit den Worten „Wirklichkeit, wie sie wirklich ist“ beworben. Im Pressetext hieß es sogar: „«Retter» zeigt Menschen in Gefahr, Unfälle, Brände, Katastrophen, Schicksale und mutige Rettungseinsätze der deutschen Feuerwehr. Nicht nachgestellt, alt und gar verfälscht wie in herkömmlichen Reality-TV-Sendungen.“

Ganz neu war die Idee der echten Wirklichkeit zwar auch nicht, denn RTLplus hatte ab September 1992 mit «Augenzeugen Video» bereits ein Programm eingeführt, in denen Amateurvideos von Unfällen und Katastrophen zu sehen waren, und dennoch unterschied sich die Sat.1-Version etwas von ihren Vorgängern. Die Aufnahmen stammten nämlich eben nicht nur von Amateuren, sondern von professionellen Kamerateams des Senders, die stets versuchten, möglichst schnell an den Unfallorten zu sein. Doch damit nicht genug, um noch näher an den Ereignissen sein zu können, wurde das ausgestrahlte Material teilweise sogar von den beteiligten Feuerwehrleuten selbst aufgenommen. Dafür verteilte der Kanal rund 30 Kameras an Beamte, die angehalten worden, diese mit zu den Einsätzen zu nehmen.

Mit der Zunahme an derartigen Formaten wuchs auch die Kritik an ihnen. Einerseits wurde ihnen blanker Voyeurismus und das Ausschlachten von persönlichen Schicksalen vorgeworfen und andererseits ein Ausnutzen der zuständigen Feuerwehr- und Notarztbehörden. Hier stand insbesondere «Retter» in der Kritik, weil die Einsätze durch die Anwesenheit von Reportern oder das eigene Filmen der benötigten Feuerwehrleute behindert und Menschen dadurch in Gefahr gebracht würden. Deutliche Worte fand der Kölner Regierungspräsident Franz-Josef Antwerpes damals gegenüber dem FOCUS: „Die Feuerwehr wird missbraucht, um das perverse Rahmenprogramm für gewinnträchtige Werbeblöcke zu füllen.“ Auch wenn Sat.1 über die Schlagzeilen und die damit verbundene Aufmerksamkeit sicher nicht unglücklich war, betonte der Sender stets, dass die filmenden Feuerwehrleute selbst nicht im Einsatz wären und damit dort nicht fehlen würden. Dennoch kündigten die Bundesländer Hessen, Bremen, Hamburg und Baden-Württemberg bald an, für solche Sendungen nicht mehr zur Verfügung stehen zu wollen.

Präsentiert wurden die sogenannten „Dokumente der Wirklichkeit“ vom damaligen Sat.1-Chefreporter Christoph Scheule, der zudem ausgebildeter Rettungssanitäter war, worauf der Kanal mehrfach ausdrücklich hinwies. Die Reihe begann im Oktober und Dezember 1992 mit zwei einzelnen Ausgaben, bevor sie ab Januar 1993 zweiwöchentlich fest am Dienstagabend um 21.15 Uhr im Wechsel mit dem nicht minder umstrittenen «K - Verbrechen im Fadenkreuz» zu sehen war. Weil das heimische Material jedoch nicht ausreichte, die Sendezeit von je einer Stunde entsprechend spektakulär zu füllen, wurde es zudem mit gleichartigen amerikanischen Aufnahmen angereichert. Diese stammten aus der NBC-Show «I Witness Video», die ohnehin als Vorlage für die gesamte Produktion diente. Ähnlich war zuvor auch das Magazin «Notruf» verfahren, das ebenfalls Ausschnitte aus seinem Vorbild «Rescue 911» zeigte.

Doch trotz aller Anstrengungen und gewollter Skandalisierungen erreichte das Sat.1-Format nie die hohen Zuschauerzahlen der RTL-Pendants. Während «Notruf» am Donnerstagabend bis zu neun Millionen Zuschauer anlocken konnte, reichte es für «Retter» oft nur für die Hälfte. Daran konnte auch eine Spezial-Ausgabe nichts ändern, in der Christoph Scheule, Dieter Kronzucker und Reinhold Beckmann das DRK bei ihrem Einsatz in Bosnien während des dortigen Bürgerkriegs begleitete. Dennoch hielt Sat.1 wacker an der Sendung fest, verlegte sie jedoch ab März 1994 auf den Montagabend um 22.00 Uhr, wo sie sich dann wöchentlich mit der Produktion «Alarm!», in der echte Katastrophen wie Zugunglücke thematisiert wurde, abwechselte, bevor sie im folgenden Sommer endgültig eingestellt wurde.

«Retter» wurde am 27. Juni 1994 im Alter von rund zwei Jahren beerdigt. Die Reihe hinterließ den Moderator Christoph Scheule, der als Korrespondent des Bayrischen Rundfunks im Allgäu mittlerweile über ruhigere Themen berichtet. Die Vorbehalte gegen die Anwesendheit von Kamerateams bei Polizei- und Feuerwehreinsätzen sind im Laufe der Jahre geringer geworden, weil die Behörden spätestens seit «Toto & Harry» erkannt haben, dass sich durch solche Aktionen ein positives Image vermitteln lässt. Der RTL-Konkurrent «Notruf» blieb übrigens noch bis zum Jahr 2006 auf Sendung und erhielt zeitweise sogar einen täglichen Ableger.

Möge die Show in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann einer weltweiten Casting-Aktion.
14.03.2013 09:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/62578
Christian Richter

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