Die glorreichen 6 – Netflix-Originalfilme, die man gesehen haben muss (Teil IV)
Egal, ob Netflix sich auf einem Filmfestival die weltweiten Auswertungsrechte gesichert hat oder den Film überhaupt erst in Auftrag gegeben hat: Diese Filme sind Netflix-Titel – und zeigen den VOD-Dienst von seiner besten Seite. Wie «To The Bone».
Filmfacts: «To The Bone»
Buch und Regie: Marti Noxon
Produktion: Monika Bacardi, Bonnie, Andrea Iervolino, Julie Lynn, Karina Miller
Darsteller: Rebekah Kennedy, Lily Collins, Dana L. Wilson, Keanu Reeves, Joanna Sanchez, Ziah Colon, Carrie Preston
Musik: Fil Eisler
Kamera: Richard Wong
Schnitt: Elliot Greenberg
Veröffentlichungsjahr: 2017
Laufzeit: 107 Minuten
Das Schönheitsideal der schlanken, makellosen Frau mit perfekten 90-60-90-Maßen ist derart festgefahren, dass sich vor wenigen Monaten sogar eine ganze Dokumentation damit befasste. In «Embrace» appellierte die australische Fotografin Taryn Brumfitt an alle Frauen, sich selbst und ihren Körper mehr schätzen zu lernen, Einzigartigkeit Perfektion vorzuziehen und sich wieder mehr auf das innere Wohlbefinden zu verlassen, anstatt dem Spiegelbild die größte Aufmerksamkeit zu schenken. In Deutschland wurde der Film trotz Eventprogrammierung zu so einem Erfolg, dass viele Kinos ihn auch außerhalb des angesetzten Tages in ihr Programm aufnahmen. Die schon einen Tag später erschienene DVD wurde zu einem Verkaufsschlager. Interesse für das Thema ist also da. Und solange es fragwürdige TV-Shows wie «Germany’s Next Topmodel» gibt, ist die Sensibilisierung dafür auch bitter nötig.
Die kalifornische Regisseurin und Drehbuchautorin Marti Noxon will mit ihrem direkt bei Netflix erschienen Jugenddrama «To The Bone» gewiss nicht aktiv gegen televisionäre Modelcastings ankämpfen. Doch die niederschmetternd-realistische Inszenierung ihres Films betont auch ganz ohne Vorschlaghammer die Schattenseiten des allgegenwärtigen Schönheits- und insbesondere Magerwahns. Vor allem aber ist «To The Bone» Noxons Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte; die Filmemacherin litt, ebenso wie die hier für die Hauptrolle verpflichtete Lily Collins («Love, Rosie – Für immer vielleicht»), selbst jahrelang an Magersucht.
Ellen (Lily Collins) ist 20 Jahre alt und magersüchtig. Vier Kliniken hat die junge Frau bereits besucht, doch jedes Mal ließen sie die Umstände weitere wertvolle Kilos verlieren. Es dauert nicht mehr lange und ihr Körper wird unter dem krankhaften Nahrungsentzug zusammenbrechen. Da auch ihre Stiefmutter nicht weiter weiß und ihre leibliche Mutter den Kontakt zu Ellen eingeschränkt hat, sucht die Anorexie-Patientin auf Drängen ihres privaten Umfeldes den unkonventionellen Mediziner Dr. William Beckham (Keanu Reeves) auf, der eine Wohngemeinschaft für junge, essgestörte Patientinnen und Patienten beaufsichtigt. Hier sollen sich die Erkrankten austauschen und so ganz allmählich zu einander und sich selbst finden. Doch auf Ellens knöchrigen Schultern lastet viel mehr als der Wunsch, dünn zu sein.
In seiner radikalen Darstellung soll das Schicksal von «To The Bone»-Protagonistin Ellen zwar definitiv schockieren, klassisches Betroffenheitskino liefert Marti Noxon («Buffy – Im Bann der Dämonen») allerdings nicht. Dafür ist schon ihre Hauptfigur viel zu wenig Opfer und obendrein viel zu ambivalent. Das Skript – ebenfalls von Noxon – betont durchgehend, in was für eine Sackgasse sich Ellen durch ihre Essstörung manövriert hat, doch auch, wenn man nach und nach mehr über die Hintergründe des Krankheitsbildes erfährt, möchte man der bis auf die Knochen abgemagerten, jungen Frau irgendwann nur noch links und rechts eine scheuern, wenn diese das Essen in einem Chinarestaurant zwar kaut, aber konsequent nach jedem Bissen wieder ausspuckt. Die Komplexität des Krankheitsbildes Anorexie bringt Noxon in vielen kleinen Einzelszenen perfekt auf den Punkt, denn eine allgemeingültige Definition dafür gibt es nicht. So lässt uns nicht nur Ellen in Gesprächen daran teilhaben, was sie auf ihrem Weg zur vermeintlichen Traumfigur schon alles unternommen hat, um möglichst viele Kalorien einzusparen. Auch ihr Umfeld aus anderen Erkrankten (von denen nicht alle unter derselben Störung leiden, wie Ellen) bringt dem Zuschauer die Bandbreite an Essstörungen noch näher.
Diesen Einblick in die (aus medizinischer Sicht) durchaus faszinierende Welt der Essstörung kombiniert Noxon in «To The Bone» mit einem Coming-of-Age-Jugenddrama, das vor allem eines betont: Gerade derartige Krankheiten haben in der Regel mit psychischen Problemen zu tun. Nicht jeder WG-Bewohner bekommt hier dieselbe ausführliche Betrachtung zugestanden. Bei manchen von ihnen muss es ausreichen, das persönliche Umfeld oberflächlich zu umreißen. Letztlich steht in «To The Bone» aber ohnehin Ellen im Mittelpunkt – und deren Beweggründe für den plötzlichen Stopp der natürlichen Nahrungsaufnahme lässt Marti Noxon auf glaubhafte Weise im Dunkeln. Wir erfahren viel über das chaotische Familiengefüge der jungen Frau, über einprägsame Ereignisse aus der Vergangenheit und auch darüber, was sich Ellen von ihrem Magerwahn erhofft. Doch der entscheidende Auslöser bleibt bis zuletzt nur erahnbar; und genau an diesem Punkt trifft Marti Nixon die wohl realistischste Aussage des ganzen Films. Betont sie doch so die auf einer fehlenden Ursache bauende Hilflosigkeit der Betroffenen, die mit der Diagnose und den Symptomen einer Magersucht einhergehen.
«To The Bone» ist daher keiner dieser typischen, Hoffnung spendenden Jugendfilme (selbst das Happy End steht hier auf nur allzu wackeligen Beinen), sondern das filmische Dokument eines dramatischen, schleichenden und kaum aufzuhaltenden Prozesses, den zu beenden die Erkrankten bewusst wollen müssen, um sich selbst aus der Sackgasse Essstörung hinauszumanövrieren.
Das in dokumentarische Bilder gehüllte Drama (Kamera: Richard Wong, «Der Seidenfächer») lebt in erster Linie von seinen Darstellern. Lily Collins, die für ihre Rolle kontrolliert viele Kilos abnahm, verkörpert Ellen als – im wahrsten Sinne des Wortes – zerbrechliches Persönchen, das bei aller Hilflosigkeit immer wieder die Freude am Leben erahnen lässt. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher ihre Ellen die krankhaften Auswüchse ihrer Störung kommentiert, verhelfen «To The Bone» obendrein zu einer gehörigen Portion bissiger Komik, der Keanu Reeves als nüchtern-professioneller Betrachter von außen Einheit gebietet. Seine Analysen treffen ohne Umschweife den Kern der Sache – und die junge Patientin schon mal bis ins Mark. Doch wenn er in einer der schönsten Szenen versucht, die hoffnungslose Ellen dazu zu animieren, die missmutigen Stimmen in ihrem Kopf einfach wegzuschreien, dann treibt einem die Leidenschaft für seinen Ärzteberuf und der unbedingte Wille, seinen Schützlingen zu helfen, schon mal die Tränen in die Augen.
Auch Newcomer Alex Sharp («How to Talk to Girls at Parties») kann sich in seinen wenigen Szenen ordentlich profilieren. Sein ebenfalls magersüchtiger, jedoch bereits weitaus optimistischerer Luke entwickelt vorsichtiges Interesse für seine Leidensgenossin Ellen; seine mal forschen, mal zurückhaltenden Avancen gewinnen durch seine verspielt-neckische Art einen unvergleichbaren Charme, der es am Ende vollkommen gleichgültig erscheinen lässt, ob die beiden nun als Liebespaar oder Freunde aus dieser Geschichte hinaus gehen. Hauptsache, beide überleben.
«To The Bone» ist, wer hätte das gedacht, via Netflix abrufbar.
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