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'Als wir mit der Produktion von «Coco» angefangen haben, lebten wir noch in einer ganz anderen Welt'

Regisseur Lee Unkrich und Produzentin Darla K. Anderson verraten Quotenmeter.de, wie die Arbeit am neuen Pixar-Film «Coco» sie verändert hat und welche Skriptänderungen sie auf Anraten lateinamerikanischer Kollegen vorgenommen haben.

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Wir haben die Figuren in frühen Entwürfen oft "Muchacho" sagen lassen, bis Gael García Bernal, die Originalstimme von Héctor, zu uns meinte: "Also, so oft würde ich das niemals sagen. Ich würde in solchen Situationen viel eher 'Chamaco' sagen." Solche Rückmeldungen hatten wir häufiger, das war ein ganz natürlicher Prozess
«Coco»-Regisseur Lee Unkrich darüber, wie sein Film während der Produktion stets auf Authentizität überprüft wurde
Sie haben bei «Coco» auf einen "Kulturellen Beraterstab" zurückgegriffen, der sicherstellen sollte, dass der Film Mexiko, seine Leute sowie Gepflogenheiten authentisch widerspiegelt. Mir ist bereits eine Anekdote bekannt, dass diese Beratergruppe zum Beispiel Szenenentwürfe bemängelte, in der Miguels Oma ihn mit einem Holzlöffel bedroht – in Mexiko sei es viel üblicher, mit Schuhen Prügel anzudrohen. Welche weiteren, vergleichbaren Rückmeldungen haben Sie erhalten?
Lee Unkrich: Einige, zumal wir ja nicht nur den Beraterstab hatten, sondern auch viele interne Leute mit Latinowurzeln, wie meinen Koregisseur und Koautor Adrian Molina, die uns Feedback gegeben haben. Ebenso wie das Sprecherensemble, das uns kontinuierlich geholfen hat, das Dialogbuch zu verfeinern. So haben wir die Figuren in frühen Entwürfen oft "Muchacho" sagen lassen, bis Gael García Bernal, die Originalstimme von Héctor, zu uns meinte: "Also, so oft würde ich das niemals sagen. Ich würde in solchen Situationen viel eher 'Chamaco' sagen." Solche Rückmeldungen hatten wir häufiger, das war ein ganz natürlicher Prozess. Darla, erinnerst du dich noch an andere konkrete Beispiele?

Darla K. Anderson: Ja. Sowohl Interne als auch Externe haben uns gesagt, dass Latinofamilien viel körperlicher miteinander umgehen als US-amerikanische Familien – sie umarmen sich viel öfter und berühren sich generell häufiger, wenn sie miteinander reden. Das beeinflusste die gesamte Körpersprache unserer Filmfamilie Rivera.

Lee Unkrich: Und noch ein Aspekt, der mir einfällt: Unsere Kulturberater haben sich gewünscht, dass mehr indigene Musikinstrumente zu hören sind, da der Día de Muertos eine sehr indigene, alte Tradition sei, was bis heute zu spüren ist. Deshalb wollten sie diese weit zurückreichende Geschichte des Fests stärker im Klangbild unseres Films reflektiert wissen. Den Ratschlag haben wir sehr gerne befolgt und unseren Komponisten Michael Giacchino darauf hingewiesen. Er hat dann mehr folkloristische Instrumente in das Arrangement seiner Musik eingebaut.

Bei «Coco» hatten Sie ja somit quasi zwei Beraterstäbe – die Kulturberater und den 'Brain Trust', Ihre erfahrenen Pixarkollegen. Gab es Situationen, wo sich die Vorschläge dieser beiden Gruppen gebissen haben?
Lee Unkrich: Durchaus. Aus dem Brain Trust kamen ab und zu Vorschläge, die sich explizit auf die Handlung bezogen haben – Einfälle, wie eine Figur ticken oder wie sich der Storyverlauf entwickeln könnte. Da kam es zwischendurch vor, dass wir, aus dem Team, das fest an «Coco» gearbeitet hat, Ideen abgelehnt haben.

Denn durch die Recherchearbeiten und den Austausch mit unseren Kulturberatern haben wir uns sehr darin hineingesteigert, keinesfalls etwas kulturell Unsensibles oder Unauthentisches machen zu wollen. Wir wussten aber stets: Unsere Kollegen meinen es gut – sie befinden sich nur auf dem Wissensstand über die mexikanische Kultur, auf dem wir uns zu Beginn der Produktionsphase befunden haben … Aber ich muss sagen: Ich könnte mich an kein einziges Beispiel mehr für solche Fälle erinnern. Es waren immer nur kleinere Ideen, die in den Raum geworfen wurden, und bei denen wir dachten: "Nein, danke, das führt am eigentlichen Thema vorbei oder wäre vom Tonfall her etwas unpassend."

Wenn ich nicht irre, war es ja auch der kulturelle Aspekt hinter dem Día de Muertos, der dazu führte, dass die Skelette in «Coco» so freundlich aussehen …
Lee Unkrich: Genau, wir hatten nie auch nur mit dem Gedanken gespielt, die Skelette gruselig aussehen zu lassen. Sie sollten stets einfach nur Leute sein, die anders aussehen. Einige der Skelette sind ja auch Mitglieder von Miguels Familie, und das in einem Film über den Wert der Familie – daher war von Anfang an für uns Voraussetzung, dass sie Freundlichkeit und Familiarität ausstrahlen. Skelette sollten in «Coco» handelnde, ansprechende Figuren sein – und kein abstraktes Symbol zum Thema Tod.

Die scharfe Trennlinie zwischen «Coco» und Halloween ...

... betrifft übrigens nicht nur die Starttermine des Films außerhalb Mexikos. So wurden auf Wunsch Pixars im Disneyland Paris Aufsteller zum Film erst mit Beginn der Weihnachtssaison platziert, und nicht etwa bereits während der im Oktober abgehaltenen Halloweensaison. Auch die «Coco»-Puppenshow im Disneyland Paris durfte erst starten, als die Halloween-Festlichkeiten im Park durch die Weihnachtssaison ersetzt wurden.
Mir wurde zugetragen, dass Sie auch mit aller Kraft vermeiden möchten, dass Ihr Film mit Halloween assoziiert wird – ist das korrekt?
Lee Unkrich: Ja, das stimmt. Die beiden Feste sind vom Tonfall und ihren Werten her komplett anders, sie werden vollkommen unterschiedlich gefeiert – sie haben überhaupt nichts gemeinsam. Der Día de Muertos wird ja gemeinhin gerne als "das mexikanische Halloween" bezeichnet, aber das ist inkorrekt und dem Fest gegenüber auch eine sehr ungerechte Umschreibung. Auch wenn ich verstehe, wo dieser große Irrtum herkommt – die beiden Feste finden kurz hintereinander statt, Skelette sind fester Bestandteil der Dekoration und dann haben sie, in den Augen jener, die sich damit nicht auskennen, "irgendwas mit Tod zu tun". Ich kann mir schon erklären, weshalb die Leute das verwechseln.

Trotzdem haben sie eine ganz andere kulturelle Verwurzelung und diejenigen, die es jeweils feiern, gehen ganz anders an Halloween und den Día de Muertos heran. In Mexiko wird es deswegen extrem kritisch betrachtet, wenn Leute von außerhalb diese beiden Feste vermischen. Der Día de Muertos ist ein emotionales Familienfest, das will niemand mit unserem Halloween verwechselt sehen. Dennoch wurde es in den vergangenen Jahren in den USA zu einem kleinen Trend, dass sich Leute zu Halloween einen traditionellen "Sugar Skull" schminken, was eine sehr kritische Debatte über kulturelle Aneignung ausgelöst hat.

Darum haben wir uns auch sehr bewusst dafür entschieden, «Coco» nur in Mexiko im Vorfeld des Día de Muertos zu starten, weil die Leute dort verstehen, dass er halt pünktlich vor dem Feiertag Anfang November in die Kinos gehört. An Halloween hat in Mexiko da niemand gedacht. In allen anderen Ländern startet «Coco» dagegen mit einem respektvollen Abstand zu Halloween – in den USA etwa kommt er passend zum Familienfest Thanksgiving heraus. Wir wollen, dass die Leute keinerlei Assoziation zwischen «Coco» und Halloween herstellen.

«The Skeleton Dance»

«The Skeleton Dance» ist ein Schwarz-Weiß-Zeichentrickkurzfilm aus dem Jahr 1929, mit dem Walt Disney seine Cartoon-Reihe «Silly Symphony» begründete. Der von Ub Iwerks, dem Micky-Maus-Zeichner erster Stunde, animierte Fünfminüter zeigt vier menschliche Skelette, die auf einem Friedhof tanzen und Musik machen.
Zum Abschluss muss ich noch eine sehr nerdige Frage stellen: Bevor ich «Coco» gesehen habe, wäre ich jede Wette eingegangen, dass eine Referenz auf «The Skeleton Dance» darin vorkommt. Ich habe aber keine gefunden. Habe ich etwa im falschen Moment geblinzelt?
Lee Unkrich: Nein, in «Coco» kommt keine Anspielung auf «The Skelton Dance» vor. Wir hatten aber in einer früheren Version des Films eine Referenz auf diesen Kurzfilm eingebaut. Es gab eine Szene, die in einem Büro für verlorengegangene Kinder spielen sollte. Das Büro war voll mit Skelettkindern, die alle auf einen Fernseher schauten – und dort sollte der Cartoon laufen. Aber wir haben die Idee wieder aufgegeben.

Oh, weshalb?
Lee Unkrich: Wir haben die Story verändert und dann passte die Szene einfach nicht mehr herein. Ganz zu Beginn dachten wir auch darüber nach, einigen lebenden Berühmtheiten Cameos in Skelettform zu geben, darunter John Lasseter. Das haben wir uns dann aber anders überlegt.

Herzlichen Dank für das ausführliche Gespräch.
«Coco» ist ab sofort in zahlreichen deutschen Kinos zu sehen – in 3D und 2D.

Das Interview entstand am 16. November 2017 in Berlin.
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03.12.2017 11:11 Uhr Kurz-URL: qmde.de/97510
Sidney Schering

super
schade


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Alles steht Kopf Coco Disney Pixar The Skeleton Dance The Skelton Dance Toy Story

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