Regisseur Lee Unkrich und Produzentin Darla K. Anderson verraten Quotenmeter.de, wie die Arbeit am neuen Pixar-Film «Coco» sie verändert hat und welche Skriptänderungen sie auf Anraten lateinamerikanischer Kollegen vorgenommen haben.
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Lee, ich bin über ein Interviewzitat von Ihnen gestolpert, laut dem Sie bei «Coco» bewusst auf moderne Popkulturreferenzen verzichteten, weil Sie einen zeitlosen Film angestrebt haben. Nun ist es einfach, sich zu sagen: "Ich will einen zeitlosen Film machen", daraufhin aber folgt noch immer ein komplexer Gedankenprozess, um dieses Ziel zu erreichen. Abseits vom Verzicht auf moderne Popkulturgags: Wie sah dieser Gedankenprozess aus?
Lee Unkrich: Unsere Geschichte wirkte zeitlos auf mich. Sie muss nicht in einer bestimmten Epoche verwurzelt sein – und genau daher wollte ich, dass sich «Coco» nicht auf ein konkretes zeitliches Setting festlegen lässt. Das spielt auch unserem generellen Ziel sehr gut in die Karten, Filme zu machen, die in 20, 30 Jahren noch immer genauso relevant sind wie zu ihrer Uraufführung. Daher wollte ich zum Beispiel auf keinen Fall zeigen, wie unser Protagonist Miguel die ganze Zeit am Smartphone klebt. Überhaupt sieht man in «Coco» keine Handys – deren Benutzung wollte ich dringend vermeiden.
Bei den Szenen, die im Reich der Toten spielen, war es wiederum egal, welche Technologien zu sehen sind – solange sie veraltet sind. Die Idee kam uns sehr früh im Produktionsprozess: Das Reich der Toten sollte mit ausgestorbenen Gegenständen und verjährter Mode ausgestattet sein, darüber hinaus wollten wir, dass die architektonischen Stile dort passé sind. Diese Grundideen haben wir in der Umsetzung hochleben lassen.
Ich würde schätzen, dass aus diesem Streben konkrete Faustregeln entwachsen sind, was in Ordnung ist, und was nicht?
Lee Unkrich: Ja. So wollte ich dem Reich der Toten einen Stil geben, der fast schon an Steampunk erinnert, weshalb sich sämtliche Technologien in ein viktorianisch geprägtes Gesamtkonzept fügen. Das hat auch den Hintergrund, dass der Día de Muertos, wie er in Mexiko seit Generationen gefeiert wird, sehr von Kunst geprägt ist, die sich aus dieser Stilepoche bedient. Was die Szenen in der realen Welt anbelangt, haben wir zum Beispiel Miguels alten Schwarz-Weiß-Röhrenfernseher so gerechtfertigt, dass wir uns dachten: Er ist ein neugieriges Kind, vielleicht hat er den Fernseher beim Spielen auf einem Schrottplatz gefunden, mitgenommen und repariert.
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Wir haben jetzt keinerlei Regeln mehr – wir erzählen die Geschichten, die wir für so interessant finden, dass wir sie einfach erzählen müssen. Wenn heute jemand bei Pixar ein klassisches Musical machen wollen würde, er hätte sämtliche Unterstützung dafür. Im spezifischen Fall von «Coco»: Wir wollten ganz bewusst einen Film machen, wie wir ihn noch nie bei Pixar gemacht haben – mit einem völlig neuen Setting und jeder Menge Musik. [...] Wenn man seit 25 Jahren Filme macht, will man es interessant halten und vermeiden, sich zu wiederholen.
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Pixar-Regisseur Lee Unkrich über das Aufgeben alter Einschränkungen innerhalb des Studios
Ich möchte noch kurz beim Themenkomplex "Faustregeln" bleiben. In der Anfangszeit hat sich Pixar als Studio selber definiert, indem es folgende Regeln für seine Filme aufgestellt hat: Es darf nicht gesungen werden, es soll keine "Ich will"-Momente geben, kein "glückliches Dorf", keine Liebesgeschichte und keinen Schurken …
Lee Unkrich: (nickt)
Keine Sorge, ich möchte jetzt nicht die Regelpolizei. Dass «Coco» dieses Regelwerk ignoriert, und dass sich Pixar über auch zuvor mehrfach über einzelne dieser Prinzipien hinweggesetzt hat, verstehe ich. Filmschaffende wollen nicht ewig auf der Stelle treten, das erklärt sich von selbst. Worauf ich aber hinaus möchte: Gab es einen spezifischen Moment, an dem dieses Regelbuch aktiv verworfen wurde – und wie definiert sich Pixar jetzt, ohne dieses Regelbuch?
Lee Unkrich: Wir haben diese Regeln aufgegeben, weil sie in einem Zusammenhang entstanden sind, der so heute nicht mehr besteht. Als wir sie uns gesetzt haben, mussten wir für als Studio eine eigene Identität finden, um uns abzugrenzen. Die Disney-Trickstudios haben damals vornehmlich eine bestimmte Art Filme gemacht. Und John Lasseter, Andrew Stanton sowie Pete Docter hatten sich vorgenommen, den Leuten zu zeigen, dass nicht alle Animationsfilme dem Disney-Schema entsprechen müssen. Sie wollten damals etwas anderes als Disney machen, sie haben das getan und bewiesen, dass man damit erfolgreich sein kann.
Jetzt haben wir keinerlei Regeln mehr – wir erzählen die Geschichten, die wir für so interessant finden, dass wir sie einfach erzählen müssen. Wenn heute jemand bei Pixar ein klassisches Musical machen wollen würde, er hätte sämtliche Unterstützung dafür. Im spezifischen Fall von «Coco»: Wir wollten ganz bewusst einen Film machen, wie wir ihn noch nie bei Pixar gemacht haben – mit einem völlig neuen Setting und jeder Menge Musik. Obwohl es kein Musical ist, steckt er voller Musikperformances. Das hat uns ungeheuren Spaß gemacht. Wenn man seit 25 Jahren Filme macht, will man es interessant halten und vermeiden, sich zu wiederholen.
«Coco» ist der erste Pixar-Originalfilm seit 2015. Die zwei vorherigen Veröffentlichungen waren Fortsetzungen, und aktuellem Stand nach werden auch die nächsten beiden Fortsetzungen sein – erst 2020 soll es wieder einen neuen Stoff geben. War die Idee zu «Coco» daher für die Studioführung ein Grund zur Freude?
Lee Unkrich: Bei uns sind derzeit einige Filme in Arbeit, die keine Fortsetzungen sind. Aber wenn sich Filme in Entwicklung befinden, weiß man nie so recht, wie schnell sie voranschreiten. Manche Geschichten brauchen einfach länger, bis sie reif sind. Aktuell sind bei uns ein paar Filme in Produktion, die wir liebend gern schon früher rausgebracht hätten – aber sie waren einfach noch nicht so weit. Parallel dazu hatten wir Ideen für Fortsetzungen, die einfach sehr zügig Gestalt angenommen haben und daher einen früheren Starttermin erhielten. Das kann man schlicht sehr schwer steuern. Aber ja: Wir sind sehr froh, jetzt einen Originalfilm auf die Leinwand zu bringen – und es werden auf ihn noch viele folgen.
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Wenn sich Filme in Entwicklung befinden, weiß man nie so recht, wie schnell sie voranschreiten. Manche Geschichten brauchen einfach länger, bis sie reif sind. Aktuell sind bei uns ein paar Filme in Produktion, die wir liebend gern schon früher rausgebracht hätten – aber sie waren einfach noch nicht so weit. Parallel dazu hatten wir Ideen für Fortsetzungen, die einfach sehr zügig Gestalt angenommen haben und daher einen früheren Starttermin erhielten. Das kann man schlicht sehr schwer steuern
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«Coco»-Regisseur Lee Unkrich über Pixars zuletzt hohe Schlagzahl an Sequels
Apropos Entwicklungszeit: «Coco» war sechs Jahre in Arbeit. Und nach all den Anstrengungen, die in den Film geflossen sind, erscheint dieser Film über die mexikanische Kultur, in dem zudem eine Brücke zwischen zwei Welten gezeigt wird, zu einem Zeitpunkt, an dem ein gewisser Jemand eine Mauer zwischen den USA und Mexiko bauen möchte …
Lee Unkrich: Als wir mit der Produktion von «Coco» angefangen haben, lebten wir noch in einer ganz anderen Welt, in der ein vollkommen anderes politisches Klima vorherrschte. Wir wollten kein politisches Statement setzen. Wir sind uns aber dessen bewusst, dass wir dies sehr wohl tun, allein dadurch, dass der Film nun erscheint. Aber es ist kein Statement, das wir vorausgeplant haben.
Darla K. Anderson: Wir sind trotzdem sehr froh, jetzt einen Film zu haben, der die Konversation positiv beeinflusst. Mit «Coco» erzählen wir von Familienzusammenhalt, entsenden eine Botschaft der Empathie und zeigen auf, dass unsere Kulturen mehr Gemeinsamkeit haben als Unterschiede.
Lee Unkrich: Und wir fühlen uns sehr geehrt, wie gut es ankommt, dass wir einen Film verwirklicht haben, der diese zuletzt so zu Unrecht niedergemachte Kultur feiert.
Und durch «Coco» werden die US-Kultur und die Kultur Mexikos vielleicht noch ein bisschen enger verknüpft …
Lee Unkrich: Wobei sie ja auch schon vorher verknüpft waren. Überhaupt sind unser aller Kulturen verknüpft. Es gibt schon lange keine Reinkultur mehr, wir alle beeinflussen uns gegenseitig.
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