In unserer neuen Reihe innerhalb der Kolumne "Popcorn und Rollenwechsel" dreht sich alles um den Subkosmos Filmkritik. Zum Auftakt brechen wir prompt die Regeln und erklären, was ein PV-Tourist ist …
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Oft werde ich gefragt: "Wie schaffe ich es, zu Pressevorführungen eingeladen zu werden?" Aber auch die gegenteilige Frage spielt eine Rolle in meinem Metier. Ja. Tatsächlich. Die Frage: "Wann hören wir auf, Leute einzuladen?" ist von erschreckender Relevanz – selbst wenn die Antwort oftmals fest steht. Es ist ein verschämtes "Joah, also … lassen wir das besser sein, mit dem Ausladen." Anders gesagt: Das mit dem Pressevorführungeneinladungsverteiler ist fast so wie mit dem Herpes. Wer ihn hat, wird ihn nicht mehr los.
Damit vor Filmstart überhaupt Kinokritiken erscheinen können, finden vorab Vorführungen für Mitglieder der Filmjournalismuswelt statt. Wer für etablierte Publikationen schreibt oder spricht, findet darüber den Zugang zu diesen Veranstaltungen. Alle Selfmade-Menschen, die meinen, durch eine eigene Webseite, einen selbst kreierten YouTube-Channel oder einen Podcast Marke Eigenbau den Filmdiskurs mitzubestimmen, müssen in Eigeninitiative die Agenturen und Verleiher kontaktieren, um sie zu überzeugen: "Ja, ich habe Relevanz, also ist es in Ordnung, wenn ich eure Filme umsonst vorab sehen darf – denn ich bin Presse!" (Alternativ kann es passieren, dass die Agenturen und Verleiher irgendwann die Initiative ergreifen, weil sie sich denken: "Huch, da ist eine relevante Person, wieso ist die nicht in unserem Verteiler? Das müssen wir ändern!")
Muster und Beispiel
So weit, so simpel. Maria Muster und Ben Beispiel schreiben für konkurrierende Medienwebseiten, sind sich aber grün und gehen daher liebend gern zusammen in Pressevorführungen. Oder, wie sie die stets gehetzte, gestresste Kritikerwelt abkürzt: PVs. Doch nach zwölfeinhalb Monaten passiert folgendes: Während Maria Muster erkennt, dass sie für ihr Leben gern Kritiken schreibt und sich noch tiefer in diese Branche stürzt, beschließt Ben Beispiel, öfter als einmal im Jahr für zweieinviertel Tage in Urlaub fahren zu wollen. Da er in einer chronisch unterbezahlten Branche arbeitet, ist solcher Luxus allerdings vollkommen unmöglich. Also schmeißt er hin und wird lieber Burgerbrater im Start-up-Restaurant seines Kumpels.
In der Küche des Szeneschuppen "meat the zwiebels" hat Ben Beispiel viel zu tun und er verdient ein solides Einkommen. Das Schreiben von Kritiken war einmal. Doch weil er den gängigen Agenturen einst seine Mailadresse gegeben hat, um immer über PVs informiert zu werden, ist er weiter im Verteiler – und bekommt so, selbst wenn er nicht mit Maria Muster kommuniziert, topaktuell mit, welche Filme dem Pressesubkosmos aktuell so aufgetischt werden.
Am 789. Tag seines Nicht-Mehr-Kritiker-Lebens trudelt dann eine Mail ein, die Ben Beispiels Herz so hoch schlagen lässt, hätte er in dem Moment gehustet, so hätte er aus Versehen einen Kopfsalat mit Innereien angerichtet: PV-Einladung für «Batman v. Iron Man: Crossover Wars». Der Film, auf den er seit Ewigkeiten gewartet hat. "Weißt du was, Chef Cheffingon", sagt Ben Beispiel zu seinem Kumpel und Arbeitgeber. "Am Mittwoch nächste Woche mach ich frei. Ich kann das. Denn ich habe ein gesellschaftsfähiges Kontingent an Urlaubstagen, jetzt, da ich nicht mehr als Schreiberling tätig bin. Und ich geh am Mittwoch um 14.30 Uhr in «Batman v. Iron Man: Crossover Wars». Denn da läuft der schon in der PV! Ha!"
Da Chef Cheffington gerade dabei ist, eine Bestellung von 16 Burgern, 14 Portionen Pommes frites, 3 Portionen Country Potatoes und 24 verschiedenen Dips abzuwickeln, hat er keinen Nerv, seinen Freund zu fragen, was eine PV ist und wieso er vierzweifünftel Tage vor regulärem Kinostart schon «Batman v. Iron Man: Crossover Wars» gucken geht. Er nickt einfach und lässt Ben Beispiel gewähren. Am Tag aller Tage staunt Maria Muster nicht schlecht. Waren in den vergangenen Wochen stets nur vier bis 31 Leute zugegen, platzt kurz vor der «Batman v. Iron Man: Crossover Wars»-PV das Foyer des Kinos aus allen Nähten.
Denn nicht nur Ben Beispiel ist aufgetaucht. Auch Aaron Autsch (22, arbeitslos seit drei Jahren, hatte Mal ein Praktikum bei einer Wochenzeitung), Ulf Ungerecht (53, Gärtner, jobbte 2002 bis 2005 nebenberuflich als freier Redakteur bei einem Onlinemagazin), Robert Ruhestand (82, seit elf Monaten in der hart erarbeiteten Rente, gab von seinem 17. Lebensjahr an alles für seine Passion – guten Filmjournalismus) und Siegfried Schmarotzer (32, hat noch nie gearbeitet, im 28. Semester 'Kunsthistorik des ethischen Populismus', hat einen Beteiligungsnachweis aufzuweisen, niemand weiß, wie er vor fünf Jahren in den PV-Zirkel gerutscht ist). Sowie leeeekomio08 (wütender YouTuber), Fiffis Fummel Fantasy ("die Dr. Sommer der Generation 'subscribe me'", urteilte Sasha Lobo … dem sein Nachbar) und ein Kerl im Superman-Kostüm, der sich auf der Toilette schnell umgezogen hat und seither einen etwas zu großen Anzug trägt sowie eine Hornbrille. Und so viele Leute mehr, die Maria Muster noch nie gesehen hat. Und die sie bis zur PV von «Lord of the Stars: Shades of the Furious» nicht mehr zu Gesicht bekommen wird.
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