Auf der Berlinale wurde er dieses Jahr frenetisch gefeiert, nun kommt «Tiger Girl» auch regulär in die deutschen Kinos. Doch wer sich auf Jakob Lass‘ neuestes Projekt nach «Love Steaks» einlassen will, braucht Lust und Muße.
Filmfacts: «Tiger Girl»
- Kinostart: 06. April 2017
- Genre: Action/Drama
- FSK: 16
- Laufzeit: 90 Min.
- Kamera: Timon Schäppi
- Musik: Golo Schultz
- Buch: Jakob Lass, Eva-Maria Reimer, Ines Schiller, Hannah Schopf, Nico Woche
- Regie: Jakob Lass
- Darsteller: Ella Rumpf, Maria-Victoria Dragus, Enno Trebs, Orce Feldschau, Benjamin Lutzke, Franz Rogowski, Ulrik Bruchholz
- OT: Tiger Girl (DE 2017)
„Radikales deutsches Kino“ – dieses Prädikat wurde in der Vergangenheit nicht selten bemüht, um zu betonen, Film XY wäre ja so anders als das, was man generell unter deutschem Kino versteht. Man könnte sich auch einfach mal darauf einigen, dass der nationale Film in den vergangenen Jahren einen souveränen Imagewandel durchlaufen hat – doch dann wäre es ja nichts Besonderes mehr, wenn ein Film eben das ist: radikal, obwohl er deutsch ist. Entsprechend unbesonders ist Jakob Lass‘ neueste Regiearbeit «Tiger Girl» dann auch, wenn man sie mit anderen Filmen vergleicht, die zuletzt für Aufmerksamkeit sorgten, weil sie ja so mutig, wild und eben radikal seien. Das wiederum ist jedoch beileibe kein Indiz dafür, dass «Tiger Girl» beliebig oder langweilig wäre. Lass‘ Film sticht schon hervor; einfach weil er handwerklich gut gemacht, stark gespielt und inhaltlich sehr kompromisslos ist. Als Offenbarung des modernen deutschen Kinos braucht man «Tiger Girl» indes nicht feiern, denn im Vergleich zu Projekten wie «Wild» oder «Der Nachtmahr» wirkt Lass‘ Film fast schon wieder konventionell. Das deutsche Kino ist einfach ebenso vielfältig wie das auf internationaler Ebene – und entsprechend unaufgeregt sollte man auch einen Film wie «Tiger Girl» betrachten.
Ja, Jakob Lass traut sich was, wenn er seine Geschichte weitestgehend ohne Drehbuch inszeniert und beweist ein selbstverständliches Geschlechterverständnis, wenn er zwei Frauen zu Protagonisten macht, ohne das dauernd betonen zu müssen. Um Sympathie oder Verständnis buhlt er indes nicht; wer sich in die Hände von «Tiger Girl» begibt, wird zwar Zeuge eines konzeptuell beeindruckenden Filmerlebnisses, doch freiwillig würde man sich nicht noch einmal in die Gegenwart derart unausstehlicher Figuren begeben.
Denn du weißt nicht, wie man Feuer macht...
Margarethe „Maggie“ Fischer (Maria Dragus) nimmt Anlauf, springt und fliegt. Auf die Schnauze. Und durch die Polizeiprüfung. Dabei war sie so gut vorbereitet. Sie wollte zur Polizei, wollte eine Aufgabe, einen Platz im Leben. Als sie heulend zurück in ihr altes Leben fährt, kostet nicht nur der Parkplatz auf einmal fünf Euro Gebühr – es ist auch keine Parklücke mehr frei. Doch die Wächterin schenkt Maggie erstens ein breites Grinsen und zweitens eine Parkmöglichkeit, indem sie einfach den Seitenspiegel eines dicken Autos abtritt. Es ist Maggies erste Begegnung mit Tiger (Ella Rumpf), einem Mädchen, das als Outlaw in einem ausrangierten Bus lebt und der Wohlstandsgesellschaft das Frühstück vom Teller klaut. Zur Überbrückung bis zur nächsten Aufnahmeprüfung fängt Maggie eine Ausbildung bei einem Sicherheitsdienst an. Als „Frau Fischer“ in einem blauen Azubi-Shirt verbringt sie ihren Alltag fortan mit netten Jungs, muss sich an Regeln halten und Disziplin an den Tag legen. Doch Tiger kommt wieder und führt Maggie vor, dass „Leben“ auch anders geht, wenn man sich nur nimmt, was man will…
In «Tiger Girl» eine Figur zu entdecken, die auch nur im Ansatz sympathische Züge aufweist, ist schlichtweg unmöglich. Die zu Beginn noch in eine vom System geformte Opferrolle gedrängte Maggie, über die man bis zuletzt keinerlei Background-Informationen erhält, lässt sich schnell von der anarchischen Attitüde der offensiven Tiger anstecken und offenbart damit gleichzeitig ein Kernproblem des Films: Den sukzessiven Wandel von der duckmäuserischen, im Alltag feststeckenden jungen Frau hin zur aufstrebenden Rebellin, die sich endlich nimmt, was sie will, kann man anhand der im Film gezeigten Ereignisse zwar nachvollziehen, doch an effektvoller Durchschlagskraft gewinnt das Gezeigte nie. Dafür weiß man einfach viel zu wenig über die Figur der im Laufe der Zeit Vanilla getauften Maggie; im Extremfall ließe sich ihr einfaches Mitläufertum und nicht etwa eine eigene Persönlichkeit andichten. So ist es in erster Linie Tiger, von deren Art man fasziniert ist.
Ella Rumpf («Raw») gelingt es mit großen Gesten, Kodderschnauze und ohne das Anklingen jedweder Hemmungen, eine Dynamik auf der Leinwand zu erzeugen, von der sich der Zuschauer schnell anstecken lässt. Weshalb die zu Beginn sehr konträr dazu gezeichnete Maggie so sehr von der mit ihrer Art offenbar sehr erfolgreichen Tiger beeindruckt ist, wird schon in den Momenten des ersten Aufeinandertreffens deutlich. Regeln treffen auf gezielten Regelbruch – und die Selbstverständlichkeit, mit welcher Tiger ihren unangepassten Regelbruch zelebriert, ist so fern von unser aller Realität, dass man schon interessiert ist, wie die junge Frau damit durchkommt. Davon nimmt sich auch Maggie nicht aus, die Stück für Stück einen Einblick in die Welt von Tiger erhält.
Doch nicht ganz so radikal und wild wie man denkt
Es spielt der Atmosphäre von «Tiger Girl» absolut in die Hände, dass Jakob Lass wie schon bei seinem letzten Film «Love Steaks» auf ein detailliertes Drehbuch verzichtet. Einen Großteil der Szenen haben die beiden Darstellerinnen aus der Situation heraus entwickelt, sodass sich das Gefühl der kontinuierlichen Eskalation weitaus authentischer über die Leinwand ausbreitet, als würde man dieses Feeling mithilfe allzu genau konzipierter Dialoge künstlich erzeugen wollen. Die beiden Darstellerinnen nutzen die freie Interaktion perfekt für sich und spielen damit, dass sie im Grunde genau so wenig Regeln befolgen müssen, wie die von ihnen dargestellten Figuren. So kommt es auch, dass Lass immer wieder ausführliche Szenenmontagen für sich arbeiten lässt, die einfach nur abbilden, was Tiger und Vanilla den ganzen Tag so treiben. Dass die ohnehin für sich sprechenden Bilder dann auch noch mit fetten Beats untermalt werden, die textlich doppelt und dreifach unterstreichen, was das Gezeigte aussagen soll, raubt «Tiger Girl» jedoch viel seines zwanglosen Charmes. Oft scheint es so, als würde Jakob Lass dem Publikum nicht so recht vertrauen und lieber doch vorweg nehmen wollen, was man als Betrachter liebend gern selbst entdecken würde. Seine stärksten Momente hat «Tiger Girl» nämlich tatsächlich dann, wenn er nicht nur die Darsteller einfach machen lässt, sondern auch bei der Inszenierung einen Gang zurückschaltet.
Subtil ist an «Tiger Girl» so gut wie gar nichts – bis auf die Erkenntnis, dass sich die Lebenswege von Tiger und Vanilla erst aufeinander zu und schließlich spiegelbildartig wieder voneinander weg bewegen. Im Grunde ließe sich der Film auch rückwärts abspielen, wodurch sich der Eindruck, «Tiger Girl» sei tatsächlich mal ein Film, auf den das Wort „Gesamtkunstwerk“ zutrifft, durchaus bestätigt. Trotzdem erkennt man Schwächen, die in der Anarchie eine Willkür, im Mut eine gezielte Provokation und in der vorgegaukelten Realität einen angestrebten Perfektionismus erkennen lassen. Trotz der Bemühung um Authentizität (vor allem in den Szenen an Maggies Schule wähnt man sich bisweilen in einem Dokumentarfilm) bleibt das Szenario bis zuletzt zu abgehoben, um so tatsächlich zu funktionieren. Jakob Lass verlässt sich zu oft auf Zufall und Glücksfälle, als dass man sich kontinuierlich in den Gedanken hineinversetzen könnte, dass all das hier Gezeigte so tatsächlich möglich wäre. Zu früh in «Tiger Girl» wird die innerfilmische Logik gesprengt, der Handlungsbogen des Möglichen überspannt und aus dem Leinwandgeschehen wird fast so etwas wie ein Märchen, das nur alles andere als romantisch ist.
Aber vielleicht ist es auch genau das, was Jakob Lass will – zwei unbequeme Figuren zu den Protagonistinnen eines modernen, mit seinen vielen Schnitten und der hektischen Bildsprache auf die „Generation YouTube“ abzielenden Märchens machen und die Realität damit noch schonungsloser präsentieren. Ein wenig ist ihm das gelungen, doch einmal an der Seite von Vanilla und Tiger durch das nächtliche Berlin gestreift, muss man diese geballte Ladung Hass und Asozialität nicht so schnell noch einmal erleben.
Fazit
«Tiger Girl» hat Power, zelebriert die Anarchie und punktet mit einer cleveren Dramaturgie. Zur Offenbarung werden in erster Linie die beiden Hauptdarstellerinnen Ella Rumpf und Maria Dragus, doch so radikal und mutig wie von vielen Seiten angekündigt, ist der Film nicht. Dafür gerät er in zu vielen Momenten plakativer, als er müsste.
«Tiger Girl» ist ab dem 6. April in den deutschen Kinos zu sehen.
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