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«The Night of» - Langsame und unfaire Mühlen der Justiz

In Ermangelung an geeigneten Seriennachfolgern, besinnt sich HBO auf seine Wurzeln. Aber hat der nüchterne, fast klassische Krimi noch mehr zu bieten als den Reiz eines mysteriösen Mordfalles?

Der geplante Sci-Fi-Hit «Westworld» hat Produktionsprobleme. Weil das Universum gelegentlich doch einen gewissen Sinn für Humor hat und der Winter einfach nicht kommen möchte, muss die Produktion von «Game of Thrones» verschoben werden. Das letzte Scorsese-Prestigeprojekt namens «Vinyl», welches einfach nicht in die heutige Zeit passen wollte, nahm frühzeitig seinen Abschied. Auch die 2. Season von True Detective konnte den Zweig des High End-Kriminaldrama nicht am Leben erhalten. Auch wenn es verfrüht und übertrieben ist, eine Krise der HBO-Drama-Abteilung herauf zu beschwören, werden viele jetzt noch erfolgreiche Formate in wenigen Jahren unwiderruflich enden und der Sender hat Schwierigkeiten, geeignete künstlerische und spirituelle Nachfolger zu finden. Die Goldenen Fernseh-Zeiten von uneingeschränkten Publikums- und Kritikerlieblingen wie «Die Sopranos», «Breaking Bad», «Mad Men» etc. sind zwar nicht unbedingt vorbei, aber wenn der Misserfolg von «Vinyl» eines gezeigt hat, dann, dass es vielleicht nicht mehr reicht, einen zugekoksten Antihelden auf eine metaphysische und psychologische Selbstzerstörungs-Odyssee zu schicken. Was hat also die altmodische, fast schon bescheidene Inszenierung von «The Night of» zu bieten?

HBOs next Toni Soprano


Hauptdarsteller John Turturro

Der 1957 geborene Sohn einer Jazzsängerin und eines Zimmermanns begann sein Schauspielstudium an der State University of New York at Paltz, welches er an der Yale School of Drama schließlich beendete. Seine erste Kinorolle war die eines Statisten in dem Klassiker von Martin Scorsese «Wie ein wilder Stier». Neben Rollen im Theater trat er in diversen Filmen von Spike Lee auf, wie z.B. «Do the right thing», «Jungle Fever» oder «Summer of Sam». In seiner Filmografie kommt aber auch die ein oder andere Adam Sandler-Blödelkomödie auf, so z.B. «Mr. Deeds», «Leg dich nicht mit Zohan an» und «Die Wutprobe». «The Night of» ist seine erste TV-Rolle seit seiner wiederkehrenden Rolle als Bruder des zwangsneurotischen Detektives «Monk».
Schon lange Zeit bevor die Produktion begann, war die Serie ein anhaltendes Glitzern im Auge des verstorbenen Schauspiel-Schwergewichts James Gandolfini, welches außerdem als Nachfolgeproduktion der prestigeträchtigen und gefeierten Serie «Die Sopranos» dienen sollte. Ein Leidenschaftsprojekt Gandolfinis, für das er auch als ausführender Produzent agierte. Einen Monat nachdem HBO seine Zustimmung für die Mini-Serie gab, verstarb Gandolfini jedoch. Tatsachen, die schon allein sehr großen Druck auf seinen Nachfolger ausüben sollten. Zunächst war Robert De Niro für die Hauptrolle eingeplant. Dieser musste allerdings aufgrund von Terminschwierigkeiten absagen. Auftritt: Jon Turturro? Nicht unbedingt. Der aus unter anderem vielen Filmen der Coen-Brüder bekannte Charakterdarsteller («Miller’s Crossing», «Barton Fink», «O, Brother where art thou» u.v.m.) und erfahrene Bühnenschauspieler war ein guter Freund Gandolfinis, und auch auf dessen Hochzeit und Beerdigung anwesend. Es ist also kein Wunder, dass er zögerte, eine wichtige Rolle des verstorbenen Freundes anzunehmen. Doch auch wenn Torturro und Gandolfini physisch kaum unterschiedlicher sein könnten, passt er nahezu nahtlos in den Part des etwas schmuddeligen Strafverteidigers, der Nachts durch das Polizeirevier schleicht, um Prostituierte und kleine Drogendealer zu verteidigen.

Zufallsbekanntschaft führt zu Zufallsmord


Die 8-teiligen HBO-Adaption, die auf der britischen BBC-Serie „Criminal Justice“ basiert, fokussiert sich allerdings nich nur auf Turturros Figur. Zumindest in der ersten Episode steht der Student Nasir Khan (Riz Ahmet) im Mittelpunkt, der College-Sportassen Nachhilfe-Unterricht gibt und dafür zu einer supercoolen Party eingeladen wird. Als ein Kommilitone und Freund an diesem Abend nicht für einen fahrbaren Untersatz sorgen kann, schnappt sich Nasir das Taxi seines Vaters und macht sich allein auf den Weg. Schon auf dem Hinweg zieht er jede Menge Aufmerksamkeit auf sich. Zum einem, weil er keine Ahnung hat, wie er zur Party kommt und willkürlich Passanten nach dem Weg fragt, zum anderem, weil er nicht weiß, wie er das Taxilicht ausschalten soll und Fußgänger in das Taxi einsteigen, die er immer wieder abweisen muss. Zumindest so lange bis die junge, attraktive Andrea (Sofia Black-D’-Elia) in das Taxi steigt und eine Fahrt zum Strand verlangt. Nach kleinen Umwegen entscheiden sich die beiden, doch lieber zu ihr nach Hause zu fahren. Die Party ist schnell vergessen, so rasch ist der schüchterne, unerfahrene Nasir von der selbstbewussten und auch irgendwie gefährlichen Andrea verzaubert. Bei ihr angekommen, nehmen sie Drogen, spielen Spielchen mit einem Messer und schlafen miteinander. Als Nasir mitten in der Nacht aufwacht und nach Hause fahren möchte, findet er Andrea mit mehreren Messerstichen übersät auf.

Autor Richard Price

Richard Price ist ein amerikanischer Schriftsteller, der zunächst mit Romanen wie «The Wanderers» oder «The Clockers», von denen letzterer vom Regisseur Spike Lee verfilmt wurde. Für sein Drehbuch zum Martin Scorsese Film «Die Farbe des Geldes» wurde er für den Oscar nominiert und seine Drehbücher zu «Kopfgeld - Einer wird bezahlen», «Shaft - Noch Fragen?» oder «Kind 44» zu starbesetzten Actionfilmen und Thrillern gemacht. Darüber hinaus schrieb der in der New Yorker Bronx geborene und aufgewachsene Autor einige Episoden der epischen und kritisch hoch angesehenen Krimiserie «The Wire».
Von diesem Zeitpunkt an kann es sich der Zuschauer fast denken, dass es keine richtige Lösung, keinen wirklichen Ausweg für Nasir gibt: Flüchtet er und wird erwischt, macht er sich sofort verdächtig. Bleibt er am Tatort und benachrichtigt die Polizei, ist er ebenfalls der Hauptverdächtige und wird in arge Erklärungsnot geraten. Er entscheidet sich für die erste Option und weil er weder ein übervorsichtiger Serienmörder oder Profikiller ist, hinterlässt er schon auf den Weg zu seinem Fluchtauto bis zu zehn Spuren. Bereits auf seiner Odyssee durch das nächtliche New York machte er auf sich aufmerksam - kleine Details, die für sich genommen keinerlei Bedeutung haben, bei denen man sich allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits ausmalen kann, wie sie in der anschließenden Ermittlung ausgelegt werden. Der zuständige Detective Box (Bill Camp) scheint sich jedenfalls die passende Narrative zusammen zu schustern, sobald der verängstigte Nasir aufgegriffen wird. Darüber hinaus wendet er beim Verhör moralisch, ethisch und juristisch fragwürdige Methoden an, um seinen Verdacht zu bestätigen. Das Drehbuch von Richard Price und Steven Zaillian arbeitet sehr subtil und Bill Camps Spiel ist so zurückhaltend, dass seine fragwürdigen Regelübertretungen kaum bemerkbar, ja fast sogar verständlich sind. Die Serie macht es sich nicht so einfach, den Polizisten als Schnurrbart zwirbelnden, klischeehaften Bösewicht darzustellen. Vielmehr wird hier ein System angeklagt, das im Zweifelsfall gegen den Verdächtigen arbeitet.

Im Zweifel gegen den Angeklagten


Steven Zaillian, auch Regisseur der acht Episoden, legt diese Brotkrumen vorsichtig aus, so dass sie zwar auffallen, aber dem Zuschauer nicht auf die Nase gebunden werden. Die Besetzung arbeitetet ebenso bescheiden und feinfühlig. Allen voran Riz Ahmed, der zuletzt neben der etwas bemühten Performance von Jake Gyllenhaal in «Nightcrawler» als heimlicher Star brillierte und demnächst im «Star Wars» - Spin Off «Rogue One» sowie der «Jason Bourne»-Fortsetzung zu sehen sein wird. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, ein Star in der Mache. Seine Figur Nasir begeht einen Fehltritt nach dem anderen, trifft Entscheidungen vielleicht aus Dummheit, viel eher aber aus Angst, das Falsche zu tun. Vom Standpunkt des Zuschauers aus ist es leicht, über sein Vorgehen zu urteilen. Ahmeds absolut überzeugende, angsterfüllte und dennoch nie übertriebene Performance sollte jedoch jeden Zuschauer zur Empathie mit dieser tragischen Figur anregen. Es ist fast schmerzhaft, dabei zuzusehen, wie er scheinbar immer weiter in sein Verderben hineinstolpert. Die Tatsache, dass er der Sohn pakistanischer Einwanderer ist, verleiht dem Fall in einer Post-9/11 Gesellschaft zusätzliches Facettenreichtum. Ohne jegliche Action, dramatische Musik, hektische Schnitte, alberne Kamerafahrten oder sonst wie künstlich hergestellte Dramatik, erzeugen Price, Zaillian und ihre Darsteller Anspannung, die sich erst wieder löst, als das sympathisch- vertraute Gesicht Turturros auftaucht. Unter den Anwälten ist sein Rechtsverdreher Jack Stone ein kleiner Fisch, der sich jedoch bestens in den dreckigen, dunklen Winkeln der Polizeistationen New Yorks auskennt. Haltungen und Attitüden, die keiner weiteren Erklärungen in ungelenken Dialogen benötigen, sondern in den Gesichtern der Darsteller abzulesen sind. Sie sehen genauso verlebt aus wie das Setting der Stadt New York, in der sie sich bewegen.

Autor und Regisseur Steve Zaillian

Der 1953 in Kalifornien geborene Zaillian ist ein alteingesessener Drehbuchautor, der unter anderem die Drehbücher zu «Der Falke und der Schneemann», «Zeit des Erwachens», «Gangs of New York» geschrieben hat und wurde für seine Arbeit am Holocaust-Drama «Schindlers Liste» mit dem Oscar ausgezeichnet. Auch wenn er schon bei einigen Filmen wie «Zivilprozess» und «Das Spiel der Macht» Regie führt, stellt «The Night of» seine erste Regiearbeit im Fernsehen dar.
Gelegentlich wird unterschätzt, welchen greifbaren, geerdeten Anstrich mit allen Wassern gewaschene und erfahrene Schauspieler wie Turturro, Bill Camp und Ahmed mit ihren dezenten Leistungen geben. Ohne in dramatische Gesten oder Reden zu verfallen, steckt hinter ihren Augen Intelligenz und Gravitas. Die Inszenierung unterstützt diese generelle Herangehensweise: Eine schlaue Kameraarbeit und Bebilderung lässt die Straßen New Yorks sich immer enger um Nasir schlingen, die Räumlichkeiten von der Polizeistation über die diversen Verhörräume bis hin zur Gefängniszelle immer kleiner werden. Nazirs Isolation wird dagegen immer deutlicher. Auch erstarren Steve Zaillian und Richard Price nicht in Ehrfurcht vor der eigenen Intelligenz, wie es «True Detective» gelegentlich tat, wenn Showrunner Nic Pizzollato seine Philosophie-Stunden mit abstrakten, physikalischen Theorien verband. «The Night of» bleibt eine erfrischend nüchterne New Yorker Kriminalgeschichte, die von tiefen Misstrauen gegenüber dem Justizsystem geprägt ist. Im aktuellen gesellschaftlichen Klima der USA, welches schon der Netflix-Dokureihe «Making a Murderer» und dem Podcast «Serial» große Aufmerksamkeit bescherte, trifft HBO wieder exakt den Zeitgeist.

Die Serie «The Night Of» ist derzeit über die Sky-Abrufdienste zu sehen. Ab 29. September gibt es sie auch linear; wahlweise auch in deutscher Sprache auf Sky Atlantic HD.
20.07.2016 11:30 Uhr Kurz-URL: qmde.de/86922
Stefan Turiak

super
schade


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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Sentinel2003
29.09.2016 10:42 Uhr 1
Ich werde mal rein Sehen....
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