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Vergesst den Mordfall!

Die viel gelobte erste Staffel von «True Detective» hatte auch ihre Kritiker, die der Serie ihren revolutionären Charakter absprechen wollen. Julian Miller entgegenet ihnen mit seiner Kolumne:

Es ist Mainstream unter Rezensenten, zumindest die erste Staffel von «True Detective» geil zu finden. Ich bekenne: Ich gehöre in diesem Punkt absolut zum Mainstream – und «True Detective» gehört aus meiner Sicht eindeutig zum Kanon aus «The Wire», «The Sopranos» und Konsorten, die das Golden Age of Television einläuteten oder weiter befeuerten.

Doch auch «True Detective» zog Kritiker an, die etwas zu kritisieren hatten. Eines ihrer Mantras: Der Mordfall, den es für die beiden Ermittler Cohle und Hart aufzuklären gilt, sei zu schwach erzählt, zu beliebig aufgelöst, zu inkonsequent zwischen möglichen übernatürlichen Anklängen und rein rationalen Erklärungsmodellen alternierend geführt.

Dem scheint aus Sicht dieses Autors ein Missverständnis dessen zugrunde zu liegen, um was es in der ersten Season von «True Detective» überhaupt ging. Vergesst den Mordfall! Der ist wenig mehr als ein MacGuffin, ähnlich dem Koffer von Vincent Vega in «Pulp Fiction». Er ist eine dramaturgische Krücke, um leichter einen Spannungsbogen aufzubauen und einen Hintergrund und gemeinsamen Bezugspunkt für die Detectives Cohle und Hart zu schaffen, an dem sich die beiden Hauptfiguren reiben können.

Denn ihre Geschichte, die primär die Geschichte ihrer Charakterwandlungen oder -variationen ist, die auf verschiedenen Zeitebenen über fast zwei Jahrzehnte erzählt wird, ist das eigentliche narrative Zentrum. Wie hat der wechselseitige Einfluss dieser beiden grundverschiedenen Polizisten sie über die Jahre verändert – als Cops, als Menschen, als Männer? Wie verarbeitet der Eine das Trauma des Auseinanderfallens seiner Familie, das er selbst durch seine eigene Misogynie eingeleitet hat, der andere den zunehmenden Verfall in die immer schwerere Depression, die ihm Schicksalsschläge und die eigene abgründig-philosophische Schwermut eingebracht haben? Wie verändert sich ihr Verhältnis zu ihrem Beruf, nicht allein aufgrund der schwer erträglichen Grausamkeiten, die sie mitansehen mussten, sondern auch aufgrund ihrer Unmöglichkeit, trotz ihrer Machtposition etwas an der Unentrinnbarkeit vor dem alles abschnürenden Entsetzlichen zu ändern? Wie verändert die erneute konkrete Konfrontation mit dem Tod die durch und durch nihilistische Weltsicht von Rust Cohle, der auf jedem zermarterten Kopf in der Pathologie noch den Blick der Erlösung zu erkennen glaubt?

Das sind die eigentlich zentralen Punkte, die «True Detective» für die absolute Mehrheit der Kritiker und begeisterten Zuschauer zu einem Gewinn machten. Zwei starke Psychogramme zweier faszinierender Figuren. Wer es letztlich war, der über Jahrzehnte hinweg in Louisiana all die Frauen und Kinder abgeschlachtet und an ihnen okkulte Rituale vollzogen hat, ist dagegen per se völlig uninteressant – genauso wie der Inhalt des Koffers von Vincent Vega. Ebenso das (nur ganz am Rande vollzogene) Spiel mit der Möglichkeit tatsächlicher okkulter Begebenheiten, das jedoch einzig den Sinn zu haben scheint, eine weitere Gelegenheit für Cohle und Hart darzustellen, ihre vorgefertigten Blickwinkel zu hinterfragen und zu reflektieren.

Nein, «True Detective» ist in erster Linie ein philosophischer Diskurs über die Abgründe der menschlichen Seele, die (Un-)Möglichkeit, in einer Welt widriger Umstände sein Lebensglück zu finden und die Annahme oder Zurückweisung einer Erlösung, sei sie zwischenmenschlicher, religiöser oder philosophischer Natur. Und dieser permanente Diskurs, ob explizit oder implizit, findet auf einem sehr hohen dramaturgischen und intellektuellen Niveau statt. Die schon von anderen Kritikern gezogenen Vergleiche mit Romanen von Dostojewskij sind nicht prätentiöse Anmaßungen von Journalisten, die den Verstand verloren haben, sondern hinsichtlich der hohen intellektuellen Qualität und der narrativen Stringenz und Konsequenz von «True Detective» durchaus vertretbar.

Wann hat man so etwas jemals über das Fernsehen sagen können?
03.07.2015 12:30 Uhr Kurz-URL: qmde.de/79249
Julian Miller

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Tags

360 Grad Pulp Fiction The Sopranos The Wire True Detective

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