Enttäuschende Auslassungen und positive Überraschungen. Unsere Analyse der Oscar-Lage.
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„Hier ist alles super! Hier kann dein Traum wahr sein!“
Vom erwähnten, grundlegenden Problem abgesehen, gibt es aber auch diverse Anlässe, zufrieden auf die Nominierungen zu blicken. Denn die Academy of Motion Picture Arts & Sciences mag zwar nicht ganz so vorurteilslos sein, wie es der geneigte Filmfan gern hätte, jedoch denkt sie auch wesentlich eigenständiger, als viele es ihr je zugestehen würden. Wer hätte direkt nach dem «Grand Budapest Hotel»-Kinostart damit gerechnet, dass ein Film des so gern übersehenen Regisseurs Wes Anderson neun Nominierungen einsackt? Auch das sechsfach nominierte, unaufgeregte Drama «Boyhood» über die Magie, die selbst in einer völlig alltäglichen Jugend anzutreffen ist, passt eigentlich eher zur Berlinale oder den Independent Spirit Awards als zum 87-jährigen Goldjungen. Und all zu alltäglich ist eine Oscar-Nominierung für einen Uptempo-Elektrosong mit absichtlich eintönigem Beat und gewollt dummen Texten auch nicht. Allein aufgrund der zahlreichen Filmpreise, die in den vergangenen Monaten verliehen wurden, war mit der großen Präsenz von «Grand Budapest Hotel» und «Boyhood» sowie einer Nennung für „Everything is Awesome“ bei den Oscars 2015 zu rechnen.
Eine echte Überraschung ist zudem, dass Marion Cotillard für den Kritikerliebling «Zwei Tage, eine Nacht» als beste Hauptdarstellerin nominiert wurde. Und dies ohne millionenschwere Oscar-Kampagne. Und nicht nur Cotillard sorgt für internationales Flair beim Oscar. Die Trickfilmsparte bietet mit dem wenig bekannten, visuell herausragenden «Song of the Sea» sowie mit «Die Legende der Prinzessin Kaguya» zwei Produktionen, die ferner von üblichen Hollywood-Animationswerken kaum entfernt sein könnten. Und in der Kamerasparte gehört mit dem in schwarzweiß gefilmten Drama «Ida» eine polnisch-dänische Gemeinschaftsproduktion zu den Hoffnungsträgern.
Lobenswert ist zudem, dass sich die Abstimmungsberechtigten nicht von den Web-Beschwerden lauter Minderheiten haben beeinflussen lassen: Christopher Nolans Sci-Fi-Drama «Interstellar» kann unter anderem in beiden Ton-Kategorien mitfiebern, und dies, obwohl vor allem im englischsprachigen Raum viel über den Sound gelästert wurde. Grund für die Beschwerden war, dass zwischendurch der Dialog von Musik oder Soundeffekten übertönt wird. Dass dies zur Atmosphäre des Films beiträgt und nie plotrelevante Passagen untergehen, interessierte die wütende Netzgemeinde nicht. Ausgleichende Gerechtigkeit: Die Branchenmitglieder interessieren sich offenbar ebenso wenig für digitale Schimpftiraden und haben den intensiven, ausgeklügelten Klang von «Interstellar» ins Nominiertenfeld gehoben.
„Was haben wir uns angetan? Was werden wir uns noch antun?“
Was bedeutet dies alles nun für den Stand der Academy Awards? Manövrieren sich die Oscars etwa ins Aus? Auch wenn einige Filmliebhaber über einige Auslassungen dieses Jahr sehr frustriert sind, ist diese Hypothese unwahrscheinlich radikal. Denn selbst wenn «Selma», «Gone Girl» und «Nightcrawler» nicht häufig genug nominiert wurden, lenken die Oscar-Nominierungen noch immer brillante Filme wie «Birdman», «Whiplash» oder «Song of the Sea» ins Rampenlicht. Menschen, deren größte Passion das Kino ist, brauchen dies womöglich nicht, jedoch würden Millionen von Gelegenheits-Filmfreunden ohne die Academy Awards wohl kaum auf diese Projekte stoßen. Und sogar «Selma» profitiert vom Oscar-Rennen, denn auch wenn die Produktion mit nur zwei Nominierungen abgespeist wurde, so ist eine von ihnen immerhin die Hauptkategorie.
Daher gilt es, Ruhe zu bewahren. Großartige Filme werden nicht plötzlich schlecht, wenn sie von den Oscars übergangen werden. Und miese Filme, die eine Nominierung erhalten – nun, die gehen dann tatsächlich ärgerlicherweise in die cineastischen Geschichtsbücher ein. Unvergesslich sind sie dadurch trotzdem nicht. Die Academy Awards sind zwar der berühmteste und wohl wichtigste Filmpreis, aber als Filmpreis bleiben sie für den Konsumenten auch nicht viel mehr als eine besonders offizielle Sehempfehlung.
Und die Academy? Womöglich finden die Debatten über die Nominierungen Gehör und lassen einige Stimmberechtigte in sich gehen. Der filmjournalistische Diskurs nach der Nominierungsverlesung zum 81. Academy Award war es ja auch, der die Erweiterung der Hauptkategorie von fünf Nennungen auf mindestens fünf herbeibrachte. Eine erneute Änderung des Abstimmungssystems könnte eine frische Perspektive mit sich bringen. Das aktuelle System (fünf Favoriten in absteigender Reihenfolge) verleiht einer gewissen Art an Filmen und Leistungen einen Vorteil. Vielleicht sollte daher das Feld an erlaubten Nennungen vergrößert werden. In den zwei Jahren, in denen wenigstens beim besten Film der Nominierungsmodus abgewandelt wurde, waren schließlich Werke wie «District 9», «Winter's Bone» und «A Serious Man» mit im Feld.
Oder die Academy belässt alles so, wie es ist. Dann werden weiter die selben Filmschaffenden zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Womit Freud und Leid weiterhin nah beieinander liegen würden. Die alten, weißen Männer übersehen zwar einige Juwelen. Ahnung von ihrer Arbeit haben sie dennoch.
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16.01.2015 16:34 Uhr 1