Der «Totenfieber»-Regisseur verrät, weshalb Quoten einer der Gründe sind, dass er so wenig Fernsehen macht. Außerdem diskutiert er mit Quotenmeter.de über Kunstfreiheit und kindertaugliche «Tatort»-Ausgaben.
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Natürlich finde ich, dass die Senderchefs nicht so viel auf die Quoten schauen sollten, gleichzeitig müssen sie sich halt für ihre Existenz rechtfertigen, also nehmen sie die Quoten als Maßstab um zu zeigen: Schau mal, unsere Produktionen verfolgen viele Leute. Irgendwie ergibt das Sinn, aber ich würde mir eine gesündere Balance wünschen.
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Titus Selge
Das Dilemma an dem Ganzen ist: Wir schimpfen hier nun über die Quotenhörigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender, und das sie doch als gebührenfinanziert die völlige Freiheit in der Programmgestaltung hätten. Aber weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk davon lebt, dass wir alle ihn finanzieren, muss er sich halt mit Massenerfolgen legitimieren, weil sonst die "Weg mit dem Gebührenfernsehen"-Strömung nur weiter zunimmt. Anders gesagt: Wie du's machst, machst du's falsch.
Ja, ist halt ein schwieriger Fall. Ich will auch gar nicht zu viel über die langweiligen Quoten reden – aber die Quoten sind ja immerhin einer der Gründe, weshalb ich so wenig Fernsehen mache. (lacht) Natürlich finde ich, dass die Senderchefs nicht so viel auf die Quoten schauen sollten, gleichzeitig müssen sie sich halt für ihre Existenz rechtfertigen, also nehmen sie die Quoten als Maßstab um zu zeigen: Schau mal, unsere Produktionen verfolgen viele Leute.
Irgendwie ergibt das Sinn, aber ich würde mir eine gesündere Balance wünschen. «Totenfieber» ist ja auch meilenweit von dem entfernt, was das Degeto-Publikum normalerweise schaut. Alle Beteiligten wissen, dass das ein Risiko ist. Dennoch haben wir ihn gemacht. Weil wir Lust drauf hatten. Und zwar auch die Leute von der Degeto. Das freut mich – ich mag solche Ausnahmefälle. Und manchmal hat man ja auch Glück und aus irgendeinem Grund läuft so ein Ausnahmefilm trotzdem gut. Das ist ja das Sonderbare: man kann es eben nicht vorhersagen.
Die Rezeptionssituation beim Fernsehen ist eigentlich ein Albtraum für jeden Filmemacher. Ich arbeite ja sehr lange an einem Film. Ich arbeite am Drehbuch mit, dann kommt der Dreh, ich sitze mit im Schneideraum – da geht manchmal ein halbes Jahr für drauf. Andere Fernsehregisseure machen drei, vier Filme im Jahr. Sollen sie, ist deren Entscheidung. Ich aber will mich in einen Film reinknien. Und dann läuft der halt im Fernsehen und die Leute schalten zufällig mittendrin rein oder sie bleiben dran, weil sie das Programm vorher gesehen haben und sie keine Lust haben, umzuschalten. Aber sie machen nebenher die Wäsche oder das Essen oder gehen Zähneputzen – wenn du was für's Fernsehen drehst, weißt du nie, ob du die Hintergrundberieselung produzierst oder den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und du bist enorm davon abhängig, was im Gegenprogramm läuft – viel mehr, als es im Kino der Fall wäre. Im Kino schaut das Publikum einen Film mit Absicht an. Oder gar nicht. Eigentlich völlig absurd, das Ganze. (lacht)
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Wenn wir den Leuten immer dieselben Erzählungen vorsetzen, denken die irgendwann: Ja, so ist das halt. Und nur so. Einen anders gearteten Film können sie dann gar nicht mehr dechiffrieren – und damit geht eine wichtige Kulturtechnik verloren.
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Titus Selge
Da fühlt man sich als Fernseh-Regisseur sicher nicht mehr wertgeschätzt …
Natürlich nicht. Aber ich mache das Publikum nicht allein dafür verantwortlich. Wer achtet schon darauf, wer bei einem Film Regie geführt hat? Die meisten Medien erwähnen den Regisseur nicht mal in ihren Besprechungen – das interessiert halt niemanden, außer vielleicht die anderen Regisseurinnen und Regisseure.
Dabei geht es nicht nur um Eitelkeiten, sondern auch um so etwas Wichtiges wie Erzählkultur. Denn wenn wir den Leuten immer dieselben Erzählungen vorsetzen, denken die irgendwann: Ja, so ist das halt. Und nur so. Einen anders gearteten Film können sie dann gar nicht mehr dechiffrieren – und damit geht eine wichtige Kulturtechnik verloren.
Ich sehe das bei meinem Sohn. Der ist zwölf Jahre alt und die Dramaturgie von YouTube-Clips gewohnt. Für ihn sind 90-minütige Fernsehfilme schon anstrengend – das ist ziemlich besorgniserregend. Bei der Zielgruppe, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen ansprechen will, ist das zwar noch anders, aber sie braucht halt einen bestimmten Aufbau. Das wissen die Sender. Die wissen exakt: Wenn bis Minute zehn nicht dies und das passiert ist, sinkt die Reichweite, je nach Sendeplatz, direkt um ein bis zwei Millionen. Also wird in der Primetime konsequent vermieden, gegen die Gewohnheiten zu verstoßen.
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Es gibt Studien, nach denen das Publikum ab einer gewissen Laufzeit eine höhere Hemmschwelle hat, die Fernbedienung wieder anzufassen.
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Titus Selge
Gerade daher finde ich «Totenfieber» aber paradoxerweise eher fürs Fernsehen geeignet als fürs Kino. (lacht) Der Film beginnt wie ein typischer ARD-Auslandskrimi und wird dann nach etwas mehr als einer Viertelstunde zum kernigen, aufgedrehten Voodoo-Thriller. Ich bin mir sicher: Wäre es ein Kinofilm, würde diese Wende weniger überraschen. Aber als Fernsehfilm wiegt «Totenfieber» einen in Sicherheit, erweckt den Anschein, ein neuer Belgien-Krimi zu sein, und Zack, werden die Erwartungen pervertiert. Ich find's auch mutig, das Publikum so an der Nase herumzuführen.
Ja, sehen Sie, so unterschiedlich kann die Wahrnehmung sein! Sie finden es mutig, das Publikum quasi reinzulegen, erst einen normalen Krimi zu versprechen und dann etwas ganz anderes zu liefern. Aber aus der Sicht des Senders ist das die
sichere Variante.
Das Originaldrehbuch fing in Kuala Lumpur an und war durchgehend als Thriller zu erkennen. Und mich hat man gebeten, einen Einstieg zu finden, der das Publikum nicht verschreckt. Also beginnt der Film wie ein klassischer Regionalkrimi. Denn es gibt Studien, nach denen das Publikum ab einer gewissen Laufzeit eine höhere Hemmschwelle hat, die Fernbedienung wieder anzufassen.
Das ist ja fast schon perfide. (lacht)
Neeein, gar nicht. Der Sender erfüllt so seinen Auftrag, den Leuten das zu liefern, was sie sehen wollen. Es gibt viele Leute, die gerne Nina Kunzendorf sehen - ich auch übrigens - daher muss sie so früh wie möglich ihren Auftritt im Film haben. Das öffentlich-rechtliche Publikum findet Geschichten über verschwundene oder verstorbene Kinder spannend, also wird keine Zeit verschwendet, klar zu machen, dass es in «Totenfieber» auch darum geht. Dann haben es sich die Leute bequem gemacht, die Fernbedienung liegt schön weit weg … Sind all diese Schalter erst einmal gedrückt, kann ich anfangen, ausgefallener zu erzählen.
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Es wäre wichtig, den Kindern beizubringen, wie sehr sie bei diversen YouTube-Clips manipuliert werden. Was für Stuss sie zum Geldausgeben verleiten soll! [...] Dass die Schulen die Medienerziehung so vernachlässigen, hat was von systematischer Verblödung.
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Titus Selge
Manche Kulturpessimisten sagen ja, das Publikum ist zu dumm oder hat einen zu begrenzten Geschmack, um ungewöhnliche Filme zu gucken. Ich finde das ja zu hart: Verschiedene Filmstilistiken erfordern auch eine gewisse Vorerfahrung, um sie genießen zu können. Man muss die Leute auch an non-konventionelle Stoffe heranführen – sich zu beklagen, dass sie nicht von alleine nach Voodoo-Thriller oder feministischen Stummfilm-Horror oder ähnlichem verlangen, ist in meinen Augen vermessen.
Ich stimme Ihnen da zu. Eigentlich sollten die Sender es sich auf die Fahnen schreiben, ihr Publikum in verschiedene Erzählformen einzuführen, um so ihren Horizont zu erweitern. Aber das wird ja nicht einmal an den Schulen gemacht. Dabei wäre es unerlässlich, einen umfassenden Medienunterricht anzubieten, aber Fehlanzeige.
Es wäre wichtig, den Kindern beizubringen, wie sehr sie bei diversen YouTube-Clips manipuliert werden. Was für Stuss sie zum Geldausgeben verleiten soll! Das ist handwerklich oft so erbärmlich und durchschaubar – wenn man nur etwas Ahnung von dem Metier hat. Dass die Schulen die Medienerziehung so vernachlässigen, hat was von systematischer Verblödung.
Mit mehr Medienkenntnis da draußen wäre sicher auch Ihr Film «Unterwerfung» anders angekommen – und sei es nur, weil mehr Leute sich darüber aufgeregt hätten, dass «Maischberger» im Anschluss mit dem Titelthema "Die Islamdebatte: Wo endet die Toleranz?" fragwürdiges Framing betrieben hat. Dass der Film verschieden aufgefasst wird – geschenkt. Aber durch den Beiklang dieses im Anschluss behandelten Talkshowthemas hat Das Erste das Publikum sehr klar in eine Richtung gelenkt ...
Das war für mich sehr deprimierend: Es wurde als Themenabend verkauft, aber es wurde kein Wort über meinen Film verloren. Dabei wäre mein Onkel, der ja zugleich der «Unterwerfung»-Hauptdarsteller war, ein wunderbarer Gast gewesen – das habe ich auch vorgeschlagen. Ich fand, man hätte mit ihm als Gast und mit dem Film als Diskussionsausgangspunkt wunderbar darüber reden können, wie man intellektuell und kulturell die Angst vor dem Islam behandeln kann, statt den Populisten das Feld zu überlassen. Aber das sei zu intellektuell verkopft, hieß es. Das wolle niemand sehen. Also, ich habe damals den Livechat verfolgt, der an dem Abend eingerichtet war und da waren sehr intelligente, spannende Fragen und Thesen dabei.
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Ich wäre für eine Art Bildungsquote – ein gewisser Prozentsatz an anspruchsvollen Spielfilmen und Dokus muss um 20.15 Uhr laufen.
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Titus Selge
Was sollten die Sender machen, um die Probleme zu beheben, die wir nun alle angesprochen haben?
Ich wäre für eine Art Bildungsquote – ein gewisser Prozentsatz an anspruchsvollen Spielfilmen und Dokus muss um 20.15 Uhr laufen, um die Leute wieder an sperrige Erzählformen zu gewöhnen. Ich wünsche mir mehr erzählerische Experimente auf guten Sendeplätzen, wie es bei «Totenfieber» ermöglicht wurde.
Vielen Dank für das spannende Gespräch.
«Totenfieber - Nachricht aus Antwerpen» ist am 6. Oktober 2019 ab 21.45 Uhr im Ersten zu sehen.
Es gibt 9 Kommentare zum Artikel
09.10.2019 12:12 Uhr 7
09.10.2019 16:35 Uhr 8
09.10.2019 17:19 Uhr 9
Das war ja auch nur ein aus einem konkreten Grund genanntes Beispiel.