Im großen Interview mit Quotenmeter.de spricht Tilo Jung über Politikverdrossenheit in den Medien, Highlights aus seiner Karriere bei "Jung und Naiv" und Interviews mit AfD-Politikern. Warum sich Angela Merkel seinen naiven Fragen noch nicht gestellt hat und ob er seine Zukunft im TV sieht, lesen Sie hier.
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Kurzfragen Tilo Jung
- Weißt Du schon, wo Du bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai Dein Kreuzchen machen wirst oder bist Du noch unentschlossen? T. Jung: Ich weiß es noch nicht.
- Welchen Politiker oder Prominenten würdest Du gerne mal interviewen? T. Jung: Natürlich würde ich mal gerne mit Angela Merkel reden. Nach sechs Jahren ist sie der letzte große Fisch in der Bundespolitik, den ich noch nicht hatte.
- Was kannst Du als Journalist gegen Politikverdrossenheit tun? T. Jung: Indem man es anders macht und alternative Herangehensweisen an Politik anbietet. Abgesehen davon unterstelle ich vielen kommerziellen Medien, dass sie politikverdrossen sind. Wir in der Bevölkerung sind nicht politikverdrossen, sondern parteienverdrossen.
- Hast Du jemals überlegt, selbst in die Politik zu gehen? T. Jung: Nein.
Tilo, in der Öffentlichkeit wird oftmals eine Politikverdrossenheit beklagt, besonders unter jungen Menschen. Andererseits erreichen Deine Interviews mit Politikern teils hunderttausende Aufrufe, bei einem jungen Publikum. Wie passt das zusammen?
Wenn man qualitative Studien macht, stellt man ja in erster Linie fest, dass es sich eher um eine Parteien- als um Politikverdrossenheit handelt. Gerade junge Leute sind es leid, dass uns immer wieder dieselben großen Parteien mit wiederkehrenden Slogans dasselbe versprechen. Am Ende kommt Stillstand raus, der dann auch noch als Dynamik verkauft wird. Ich glaube, die junge Generation in Deutschland verfolgt schon, was in der Politik passiert bzw. nicht passiert und lässt sich durch Themen wie Klimaschutz, Uploadfilter oder Waffenexporte an Diktaturen politisieren.
Wäre der Schlüssel also mehr Mut zu Ehrlichkeit?
(überlegt) Eigentlich nicht. Man kann so viel gegen die CDU sagen, aber sie sind im Grunde genommen bei den meisten Themen ehrlicher und stehen schon für das ein, was sie machen. Das gefällt einigen nicht, aber sie drucksen nicht so drumherum wie die SPD. Die SPD hat gelinde gesagt ein Ehrlichkeitsproblem, sie sagt das eine und macht das andere: Uploadfilter, Rüstungsexporte usw. Daraus resultiert, glaube ich, das große Problem der Parteienverdrossenheit. Ansonsten ist mir die "Politikverdrossenheit" gleich beim Start von "Jung und naiv" bei den Medien aufgefallen.
Was meinst Du damit?
Ich habe den Eindruck, dass z.B. im öffentlich-rechtlichen Fernsehen die politische Berichterstattung wie für ein Fachpublikum aus Insidern gemacht wird. Sonntagabends laufen aus den Hauptstadtstudios kurze Sendungen für andere Redaktionen, Nachrichtenagenturen und Politiker, so kommt es mir vor. Wer kämpft in der GroKo gerade mit wem? Wer führt in den Umfragen? Und was sagt Frau Nahles eigentlich zu der Aussage von CDU-Mann XYZ? In der Politikberichterstattung der großen Sender zählt meistens nur das, was gerade neu ist, welcher Stand sich geändert hat oder ändern könnte - so bleibt für Hintergründiges, wie im Deutschlandfunk kein Platz. Dabei ist das, was sich Tag zu Tag hinter den Kulissen tut, eigentlich nur für die absoluten Insider sehr interessant.
Kannst Du Dir vorstellen, woran das liegt? Ist es, weil auch im politischen Journalismus vom Einzelnen immer mehr gefordert wird? Weil man sich als politischer Journalist in Berlin selbst in einer Blase befindet?
Das liegt zunächst an jedem einzelnen Journalisten, aber nicht nur. Das Hauptproblem scheint mir, dass immer weniger Leute immer mehr machen müssen. Die fehlende Zeit für Recherche ist schädlich für den Journalismus an sich, und es ist besonders schade, dass das auch für die öffentlich-rechtlichen gilt. Gerade die könnten ja das Gegenbeispiel zum kommerziellen Journalismus sein. Im kommerziellen Journalismus erwarte ich nichts anderes, die sind auf Profite angewiesen, aber bei den öffentlich-rechtlichen ist das ein Problem. Wenn beim ZDF Stellen gestrichen werden müssen, und die Alten bleiben, während die Jungen gehen müssen, ist das unfair. Wenn Du trotzdem bleiben willst, darfst du nicht zu sehr aus dem Rahmen fallen und das abliefern, was man gewohnt ist. Fürs Ausprobieren bleibt da wenig Zeit. Für die Abkehr vom Gewohnten fehlt der Mut - kein Wunder, dass es da wenig Individualismus gibt. Dabei gibt es so viele, so clevere junge JournalistInnen in der Häusern, die eine Menge drauf haben und die politische Berichterstattung bissiger machen könnten.
Dann kommen wir doch auf Euer eigenes Projekt "Jung und Naiv" zu sprechen. Nach eigenem Anspruch wollt Ihr „Politik für Desinteressierte“ erklären. Erreicht Ihr wirklich diese Gruppe oder sind es am Ende doch wieder die Politikfreaks, die bei Euch zuschauen?
Natürlich erreichen wir in aller erster Linie diejenigen, die sich schon für Politik interessieren. Das war auch unsere Intention. Wir erreichen aber auch Menschen, die sich schon für Politik interessieren, angesichts der medialen Berichterstattung und Nachrichten darauf aber nicht mehr so wirklich Lust haben. Die haben sich aufgrund des zu boulevardesken Zugangs der Medien zur Politik abgewandt und brauchen vielleicht einen neuen Zugang, den wir ihnen durch lange Gespräche und Einsichten in die Bundespressekonferenz ermöglichen. Und dann gibt es tatsächlich auch Leute, die wirklich desinteressiert sind, aber durch Interessierte – zum Beispiel ihre Lehrer, Eltern oder Freunde– auf uns aufmerksam gemacht wurden. Eine vierte Gruppe, das erstaunt mich immer wieder, sind Zuschauer mit radikalen, extremen Ansichten. Die haben ihr Weltbild auf YouTube gefunden, das für sie Sinn macht und nicht mehr hinterfragt werden muss. Wenn solche Menschen dann aber sehen, dass es auch noch andere journalistische Angebote gibt, wie beispielsweise unseres, ziehen wir sie manchmal davon ab. Wir „entradikalisieren“ quasi.
Zur Person: Tilo Jung
Tilo Jung wurde 1985 geboren, er studierte einige Semester Jura und Politikwissenschaften, ohne allerdings einen Abschluss zu machen. 2013 startete er das Projekt "Jung & Naiv - Politik für Desinteressierte". Die Interviewreihe besteht aus langen Gesprächen mit Politikern, Philosophen und Co, die Jung führt und ungeschnitten bei YouTube online stellt. Inzwischen umfasst die Reihe mehr als 400 Folgen. Abseits davon produziert Tilo Jung seit April zusammen mit Stefan Schulz den Podcast "Aufwachen!", der sich anhand aktueller Fernsehberichterstattung mit politischen Themen beschäftigt.Aus den Interviews schneidet Ihr nichts nachträglich heraus, auch gibst Du Deinen Gesprächspartnern reichlich Zeit für Ihre Antworten. Ist es vielleicht genau das, was die Zuschauer an Euch schätzen? Gerade bei Talkshows kommt ja häufig die Kritik, der Moderator lasse nicht ausreden…
Bei den Talkshows ist das ja dem Format geschuldet, da mache ich den Moderatoren auch gar keinen Vorwurf. Wenn die Sender sich entschieden haben, eine Stunde lang mit fünf verschiedenen Personen plus Moderator zu diskutieren, kann das gar nicht anders funktionieren. Wir machen es anders: Ein Gesprächspartner und jede Menge Zeit. Wir lassen alles drin von der Begrüßung bis zur Verabschiedung. Im Intro-Teil stellen wir ein paar Highlights vor, damit die, die noch nie von dem Gast oder dem Thema gehört haben, ein bisschen gecatched werden. Am Ende erscheinen die PolitikerInnen oft in einem anderen Licht, weil ich sie durch das Interview-Setting dazu zwinge.
Eine weitere Besonderheit an Deinen Interviews: Sie sind extrem lang, häufig über eine Stunde…
Uns jungen Leuten wird ja immer unterstellt, unsere Aufmerksamkeitsspanne sei so niedrig, wir könnten auf YouTube nicht länger als drei Minuten zugucken und müssten dann wieder wegschalten. Ich bin froh, dass wir das durch unsere eigenen Erfahrungen widerlegt haben. YouTube London hat uns mal vor einigen Jahren angerufen und erstaunt gefragt, warum die Leute bei uns dranbleiben, was wir anders machten. Als ich ihnen sagte, dass ich einfach nur versuche, Gespräche interessant zu führen, waren die überrascht. Interessante Interviews brauchen schlicht und einfach Zeit. Es hat seinen Grund, warum ich zu Beginn des Gesprächs lange über den Werdegang des Gastes spreche. Der Gast lernt, dass ich ihm zuhöre, nachfrage und nicht an meinen vorbereiteten Fragen klebe. So entsteht eine angenehme Gesprächsatmosphäre.
Wie sich Tilo und sein Team finanzieren , was Highlights seiner Karriere waren und ob er seine langfristige Zukunft im Fernsehen sieht, lesen Sie auf Seite 2.
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