Einen echten Klassiker hat Netflix ausgegraben: Ab Frühjahr 2019 bietet der Streaming-Dienst mit «Neon Genesis Evangelion» ein Format an, das in Szenekreisen als legendär angesehen wird. Wie viel Einfluss die Serie hatte und warum das der vergleichsweise kleinen Produktion gelang, versucht unser Autor Martin Seng zu erläutern.
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Doch das Universum von «Neon Genesis Evangelion» besteht nicht nur aus einer einzigen Serie mit 26 Folgen. Darüber hinaus existieren Filme, Mangas, als auch Videospiele der Marke. Ausschlaggebend für die Produktion weiterer Filme war das zweiteilige Finale der Original-Serie. Die finalen Folgen #25 und #26 waren durch ihre Ausstrahlung für einen der größten Skandale der Anime-Geschichte verantwortlich. Um Spoiler zu vermeiden, sei nur so viel gesagt: durch finanzielle Engpässe war das Studio hinter dem Anime, Gainax, dazu gezwungen ein alternatives Ende zu produzieren, als das, das ursprünglich geplant war. Während die Struktur der Folgen vor #25 und #26 auf ein dramatisches Finale hindeuten, sind die beiden finalen Folgen in den Augen vieler Fans antiklimatisch und schaden dem restlichen Anime. Nach der Ausstrahlung des alternativen Finales waren die Fans tief gespalten. Das Lager, das sich gegen das Ende der Serie aussprach, war dabei besonders radikal, beschädigte das Produktionsstudio und schickte sogar Drohbriefe an Anno selbst, in denen man drohte ihn für das alles zunichtemachende Finale zu ermorden.
Die Reaktion von Seiten Annos auf die Kontroverse war der Film
«Neon Genesis Evangelion: Death & Rebirth», der 1997 veröffentlicht wurde. Der Film komprimiert die ersten 24 Folgen der Serie in einer guten Stunde und gipfelt in knapp 30 Minuten neu animierter Szenen, die das ursprünglich geplante Finale sein sollten. Durch Produktionsprobleme konnte Anno jedoch seine Vision nicht vollends realisieren und war erneut zu einem weiteren Projekt gezwungen. Dieses Mal sollte es jedoch sein größtes Werk sein und so kam
«The End of Evangelion» 1997 in die japanischen Kinos.
Hideaki Annos philosophisch anspruchsvolles Werk «The End of Evangelion» verlangt von dem Zuschauer einen Grundstock an Vorwissen über die eigentliche Serie, sowie über deren Thematiken. Das gezeigte wird nicht explizit erklärt, ist nicht immer verständlich für das Publikum und doch entwickelt Annos knapp anderthalbstündiges Finale eine ungeahnte Sogwirkung. Während «Neon Genesis Evangelion: Death & Rebirth» das originale Ende in ein enges Korsett von nicht einmal dreißig Minuten presst, geht «The End of Evangelion» einen anderen Weg. Anno ist nun nicht mehr an eine kurze Laufzeit gebunden, was man durch die Vielzahl an Handlungssträngen merkt. Visuell ist der Spielfilm ebenfalls einzigartig und entzieht sich einer genauen Einordnung. Während Klassiker des Anime-Genre, wie etwa die aus dem berühmten Studio Ghibli, eine ähnliche Stilistik aufweisen, distanziert sich «The End of Evangelion» mit seinen Animationen von ähnlichen Werken. Die energetischen und temporeichsten Bilder können im Bruchteil einer Sekunde still und anrührend wirken, ohne plakativ oder gezwungen zu wirken. Inhaltlich lässt sich über Annos Geniestreich wenig sagen, ohne in tiefe Interpretationen und Deutungen abzuschweifen. Nach dem ersten Drittel erinnert der Film nicht mehr an ein klassisches Drama mit drei Akten und einer Spannungskurve, sondern an eine Erfahrung, die ähnlich wie Stanley Kubricks
«2001: Odyssee im Weltraum» (1968) ein audiovisuelles Erlebnis ist, das der Zuschauer nicht vergisst. Im weiteren Verlauf des Films bricht Anno mit jeglicher erdenklicher Konvention, ignoriert alle Formen einer filmische Narrative und bricht selbst die sogenannte vierte Wand, die Ebene zwischen dem Zuschauer und dem Medium, dass man sieht. Die an Anno adressierten Mordbriefe finden ihren Weg in den Film, reale Szenen verbinden sich mit den Animationen und irgendwann merkt man als gewöhnlicher Zuschauer, dass man nicht mehr einem klassischen Film folgt, sondern Zeuge von etwas grundlegend innovativem ist.
Ziemlich dick aufgetragen, mag man denken, aber jeder Leser ist gerne dazu eingeladen, sich selbst mit dem «Neon Genesis Evangelion»-Universum auseinanderzusetzen. Doch Vorsicht: wie einst Alice im Kaninchenbau kann man sich auch in Annos Anime-Welt verlieren und in den unzähligen Fan-Foren diskutieren, analysieren und interpretieren. Mehrere Universitäten behandeln die Anime-Serie und ihre Filme aufgrund ihrer Thematiken und deren Inszenierung und bis heute ist die Begeisterung für Hideaki Annos Werk nicht abgeebbt. Mehrere Videospiele sind aus der Marke heraus entstanden, sowie eine Neuauflage der Original-Serie in zeitgemäßer Optik, die sich jedoch inhaltlich wieder in essentiellen Teilen unterscheiden. Manga-Reihen wurden veröffentlicht, die einzelne Storyfäden der Serie aufnehmen, sie weiterspinnen, obwohl sie in eine völlig andere Richtung führen und contraire zu den Filmen stehen. Dazu kommen noch die unterschiedlichen Schnittfassungen der einzelnen Spielfilme, die je nach Länge eine andere Bedeutung bekommen und dadurch unterschiedlich wirken können.
Kein Zweifel, «Neon Genesis Evangelion» ist eines der populärsten Exporte der japanischen Popkultur. Wer Zeichentrick und insbesondere Anime mit kindlichen Inhalten verbindet, hat nur leicht an der Oberfläche gekratzt. Hideaki Anno selbst vertritt beispielsweise die Ansicht, dass sein Universum nicht für Kinderaugen geeignet ist und demnach auch nicht in einem Kinderprogramm ausgestrahlt werden sollte. Auch wenn sich das Werk an Erwachsene richtet, ist und bleibt es ein bedeutendes Stück der Anime-Kultur und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sie sich im Westen weiter etablieren konnte. Durch seine Philosophie und Erzählweise ist «Neon Genesis Evangelion» einzigartig und wird bis heute diskutiert, ist immer noch umstritten und begeistert Fans und Neulinge gleichermaßen. Die Serie steht mit ihren Spielfilmen, Mangas und weiteren Spin-off-Medien für die Kunst, die Animes sein können. Sie zeigt, wie tiefgründig und berührend gezeichnete Bilder sein können und dass diese den realen in nichts nachstehen.
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