Einen echten Klassiker hat Netflix ausgegraben: Ab Frühjahr 2019 bietet der Streaming-Dienst mit «Neon Genesis Evangelion» ein Format an, das in Szenekreisen als legendär angesehen wird. Wie viel Einfluss die Serie hatte und warum das der vergleichsweise kleinen Produktion gelang, versucht unser Autor Martin Seng zu erläutern.
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Japanischer Zeichentrick, bekannt als Anime, wurde im Westen gegen Ende der 1980er Jahre förmlich schlagartig durch einen Film populär und ist es bis heute geblieben. Verantwortlich dafür war das Drama
«Akira», das 1988 in den japanischen Kinos veröffentlicht wurde, ein Jahr später in den amerikanischen und 1991 im kurz zuvor wieder vereinigten Deutschland. Katshuhiro Otomo, der Regisseur und zugleich Autor der Manga-, bzw. Buchvorlage, schuf mit «Akira» den größten Pionier des japanischen Animes, doch wer Zeichentrick hierbei mit etwas kindlichem verbindet, irrt. Otomos Epos verbindet die sozialen Probleme von jungen Erwachsenen mit Wirtschaftskrisen, staatlichen Experimenten, Revolutionen, Gewalt und zuletzt auch einer Freundschaft. Gerade dieses Konglomerat aus einer Vielzahl von Thematiken sollte später bezeichnend für Anime-Filme und Serien werden. Nachdem «Akira» den Weg für den japanischen Zeichentrick geebnet hatte, öffnete sich der westliche Markt den Produktionen der kleinen Insel.
«Perfect Blue» (1997),
«Prinzessin Mononoke» (1997) oder
«Ghost in the Shell» (1995) sind nur einige der Filme, die ihren Weg in den Westen gefunden haben und bei uns sehr positiv aufgenommen wurden.
Neben den klassischen Spielfilmen gewannen auch die Anime-Serien zunehmend an Bedeutung, darunter
«Cowboy Bebop» und
«Ranma ½», sowie die erfolgreiche
«Dragonball»-Serie, die ab 1999 auch in Deutschland ausgestrahlt wurde. Während in den 1970er Jahren Serien wie
«Wickie und die starken Männer» oder
«Die Biene Maja» mit japanischer Beteiligung produziert wurden, standen in den 1990er Jahren Anime-Serien im Fokus, die japanische Storyelemente besaßen, die typischen Eigenheiten des Landes hatten und teils selbst in ihm spielten.
Unter all den Anime-Serien, die in den 1990er Jahren und frühen 2000er Jahren von diversen Fernsehsendern in mehreren Ländern ausgestrahlt wurden, gibt es eine, deren Status bis heute legendär ist.
«Neon Genesis Evangelion», eine Serie, die längst zum Kult geworden ist und als einer der größten Meilensteine der internationalen Zeichentrickgeschichte gilt und bis heute nicht vollends beendet wurde. Die ursprüngliche Anime-Serie erschien 1995, natürlich in Japan, und veränderte mit gerade einmal 26 Episoden à 25 Minuten die Wahrnehmung des Genres. Die deutsche Premiere für den Anime kam 2000, damals noch auf dem Sender VOX.
Die Bedeutung der Serie ist bis heute im Anime-Genre spürbar und allein das Vergleichen mit ähnlichen Serien wird von Fans kritisch betrachtet. Doch wie kann eine vergleichsweise kleine Serie auch noch 20 Jahre nach seiner Veröffentlichung einen solchen Einfluss haben? Die Antwort darauf ist vielfältig und liegt zum Teil in der Handlung der Serie selbst.
Der Zuschauer folgt dem Protagonisten Shinji Ikari, einem vierzehnjährigen Schüler, der 2015 nach Neo Tokyo-3 zieht, einer futuristischen Version der japanischen Hauptstadt. Er soll ein Pilot werden, jedoch nicht im klassischen Sinne, sondern ein EVA-Pilot. In der fiktiven Welt der Serie greifen Engel aus dem Weltraum die Menschheit an, ohne das die Bevölkerung weiß weshalb. Als Abwehrreaktion darauf wurden die Evangelion-Einheiten erschaffen, riesige Kampfroboter, die sich den übernatürlichen Gegnern entgegenstellen können. Der Junge Shinji soll auf den Befehl seines Vaters einer dieser Piloten werden, da nur Kinder für diese Rolle geeignet sind, doch anfreunden kann sich der Pubertierende nicht damit.
Man mag denken, dass sich dieser kurze Abriss der Handlung sehr übertrieben anhört und nahezu lächerlich wirkt. Bei einer äußeren Betrachtung der Serie mag man nur vereinzelte Versatzstücke erkennen, vielleicht sogar verwirrt sein und denken, dass es nur eine weitere Anime-Serie mit Robotern und Explosionen ist. Doch weit gefehlt, denn «Neon Genesis Evangelion» ist vielmehr als die Summe seiner Teile und darüber hinaus etwas, das einzigartig ist und es noch lange bleiben wird. Schöpfer und künstlerisches Mastermind hinter der Serie ist Hideaki Anno, der schon für einen Großteil der Animationen von Hayao Miyazakis Anime-Klassiker
«Nausicaä aus dem Tal der Winde» (1984) verantwortlich war. Doch Annos primärer Einfluss in «Neon Genesis Evangelion» kam in Form der Narrative, die er selbst konzipierte und teils seine eigenen Erlebnisse mit einbezog.
Während die Sendung mit den Problemen eines pubertierenden Jugendlichen beginnt, der ein miserables Verhältnis zu seinem Vater hat, vertieft sich die Serie immer weiter in den psychologischen Abgründen des Jungen und seiner weiblichen Mitstreiterinnen, denen er begegnet. Zwischen Pubertät, dem Gefühl des Verloren Seins und psychischen Problemen kommen durch die Engel Fragen religiöser Natur hinzu. Die aggressiven Engel werfen Fragen nach einer höheren Existenz auf, wo sie herkommen und was ihre Motivation ist. Auch buddhistische Philosophien finden ihren Weg in den Anime, ebenso wie Teile der Historie der katholischen Kirche. Durch all diese Thematiken entstehen tiefgründige Dramen um Liebe, Verantwortung und die Suche nach dem eigenen Ich. «Neon Genesis Evangelion» versteckt sich vor keiner Thematik, sondern tritt ihnen offen entgegen und behandelt sie ausgiebig. Ob es nun Homosexualität ist, philosophische Fragen oder die Reise in die eigene Seele, Hideaki Anno baut es kohärent und logisch in die Handlung ein. Wie schon in «Akira» treffen auch hier derartig viele Thematiken und Plotelemente aufeinander, dass man durch eine distanzierte Betrachtung schnell den Eindruck erhalten mag, dass die Serie hoffnungslos überfüllt ist. Doch gerade in dieser Vielzahl der Elemente liegt ein Teil der Genialität der Kult-Anime-Serie, denn sie schafft es zu keinem Zeitpunkt gestreckt oder überambitioniert zu wirken. Keine Filler-Episoden, die die Handlung unnötig aufblähen, stattdessen ist jede Folge dem Plot zuträglich und formt die Psychologie der Charaktere weiter aus.
Doch die allumfassende Handlung von «Neon Genesis Evangelion» hat neben der zunehmend düsteren Note auch eine reale Schattenseite. Diese resultiert aus den privaten Umständen des Schöpfers Anno, der zu den Produktionszeiten seiner einflussreichen Serie mit einer tiefen Depression zu kämpfen hatte. Die psychologischen Facetten der Serie werden im weiteren Verlauf zusehends dunkler und die Depression des Autors zeichnet sich sowohl in den Folgen, als auch in den einzelnen Charakteren wieder.
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