Der US-amerikanische Streaming-Service verabschiedet sich gerade von mehr Eigenproduktionen als je zuvor. Nur eines der Vorzeichen des sich ankündigenden Streaming-Kriegs.
Einer nach dem anderen fielen sie um. Die hochgelobte Highschool-Satire «American Vandal» - abgesetzt. Die teuren Marvel-Serien «Luke Cage» und «Iron Fist» – abgesetzt. «House of Cards», «Love», «Lady Dynamite», «Disjointed», «Everything Sucks!» und weitere Netflix-Formate wurden im Jahr 2018 beendet. Auch die Enden von Serien wie «Unbreakable Kimmy Schmidt» und der laut Netflix-Aussagen erfolgreichsten Eigenproduktion «Orange is the New Black» sind schon beschlossene Sache. Dass auch der Video-On-Demand-Dienst Serien absetzt, ist kein Novum. Wie viele und vor allem welche Serien es im Jahr 2018 traf, ließ aber viele Branchenbeobachter aufhorchen. Schließlich galt Netflix lange Zeit als der Anbieter, der insbesondere gegenüber linearen Fernsehsendern höchstens aus dem Augenwinkel auf Abrufzahlen schaut und doch so attraktiv für Kreative sei, weil man sich weniger nach Zielgruppen und Sehgewohnheiten richte und man der Vision der Macher damit mehr Raum lasse.
Eigentlich fiel es lange Zeit nicht schwer, Netflix diese Aussagen zu glauben, die natürlich auch zur Imagebildung des Unternehmens beitragen, das sich gern als Spielwiese kühner TV-Pioniere inszeniert. Die Abrufzahlen einzelner Formate zählen tatsächlich weniger bei einem Angebot, das (noch) keine Werbezeiten verkauft, sondern sich durch Abonnementzahlungen refinanziert und daher in erster Linie darauf bedacht ist, entweder Formate zu produzieren, die als Verkaufsargument für ein Abonnement dienen oder eine solche Fülle an Produktionen bereitzustellen, dass sich Neukunden aufgrund des reichen Angebots für monatliche Zahlungen entscheiden. Lange lief dieses Geschäftsmodell prächtig. Netflix hatte den Pioniersvorteil, sah sich in den meisten Ländern im Wesentlichen nur Amazon Prime ausgesetzt und boomte fröhlich vor sich hin.
Maßnahme eins: Masse statt Klasse
Doch der US-Konzern spürte, dass sich etwas über ihm zusammenbraute. Dass Streaming ein wichtiger Teil der Zukunft in der Unterhaltungsindustrie sein würde bemerkten auch andere und etablierte Studios geizten immer öfter damit, im Auftrag von Netflix zu produzieren und den Riesen weiter wachsen zu lassen. Netflix reagierte mit einer wahren Serienoffensive. Mit acht Milliarden US-Dollar für Content soll Netflix im Jahr 2018 geplant haben, hieß es Anfang des Jahres in verschiedenen Pressemeldungen. Damals ahnten viele Leser dieser Berichte noch nicht, dass dieser kolportierte Betrag nicht nur in Qualitätsfernsehenden investiert werden sollte, sondern auch in eine wahre Serienmasse. Die Anzahl an neuen Eigenproduktionen stieg von Monat zu Monat an. Viel Schund überflutete das Angebot, für den Netflix sich keine große Mühe machte zu werben und die bei vielen Nutzern direkt in der Versenkung der Mediathek verschwanden.
Obwohl viele Serienfans 2018 nur von den großen Netflix-Produktionen mitbekamen, hieß das Motto insgeheim Masse statt Klasse. Es war der erste Schritt im Plan von Netflix, sich für den großen Streaming-Krieg zu rüsten, den der Dienst für 2019 erwartet. Die Anzahl an Serien sollte aufrechterhalten bleiben und das Angebot möglichst autark gemacht werden, während die lizensierte oder fremdproduzierte Ware nach und nach heimlich aus dem Angebot verschwindet. Hintergrund sind die Ankündigungen von Disney und Warner, Ende 2019 eigene Streaming-Dienste an den Start zu bringen. Fans werden dann vergeblich nach Star Wars, Harry Potter, High School Musical, Batman oder Marvel suchen, da diese Produktionen sich exklusiv bei den Diensten der produzierenden Mutterkonzerne tummeln werden.
Die vielen Absetzungen seitens Netflix lassen sich daher auf unterschiedliche Weise erklären. Serien wie «American Vandal» oder die 90er-Jahre-Nostalgie-Serie «Everything sucks!» ließen sich nicht mehr halten, weil sie mittlerweile tatsächlich zu spitz sind für Netflix, das es sich nicht mehr leisten kann, die Abrufzahlen außer Acht zu lassen. Die Absetzung der Marvel-Serien hat derweil auch den Hintergrund, dass Marvel-Inhaber Disney Netflix das Leben immer schwerer macht. Ob die tatsächlich zunehmend unbeliebten Formate «Luke Cage» und «Iron Fist» beim Disney-Dienst wieder das Licht der Welt erblicken, bleibt fraglich. Netflix will man die Helden aber auch nicht überlassen. So hängt die «Defenders»-Reihe, die auch noch «Jessica Jones» und «Daredevil» beinhaltet, jetzt schon etwas in den Seilen. Um die wesentlich besser laufenden Ableger bemüht sich Netflix vorerst aber wohl weiterhin.
Maßnahme zwei: teure Kreative & mehr Nationales
Wie lautet also Netflix‘ Masterplan gegen das Aufbegehren der großen Studios? Neben dem bereits erwähnten Anhäufen möglichst vieler Eigenproduktionen angelte sich Netflix kostspielige Verträge mit TV-Koryphäen wie «Grey’s Anatomy»-Schöpferin Shonda Rhimes und «American Horror Story»-Macher Ryan Murphy. Hinzu kam der Erwerb der Rechte an der «Chorniken von Narnia»-Buchreihe. Was für Netflix aber ebenfalls immer wichtiger wird, ist nationaler zu denken. Der US-Konzern hat mittlerweile über die Jahre viele wertvolle Erfahrungen gesammelt, was Zuschauer in bestimmten Nationen interessiert und was nicht. Diese Erfahrungen gehen Disney und Warner Bros. noch ab. Neben dem passgenauen Angebot der von Land zu Land unterschiedlichen lizensierten Produktionen im Netflix-Aufgebot, intensiviert Netflix schon jetzt die Produktion von Formaten für nationale Märkte.
Leuchtendes Beispiel ist Deutschland, wo Netflix nun schon seit 2014 verfügbar ist. Seitdem entwickelte sich das Unternehmen zu einem Player, der nicht mehr wegzudenken ist und von Serien- und Filmfans geschätzt wird. Mit «Dogs of Berlin» erscheint noch im Dezember die zweite deutsche Netflix-Serie, danach wurde eine Serienadaption von «Die Welle» angekündigt und kürzlich bestellte der Streaming-Service gleich fünf neue Serien. Auch nationale Eigenproduktionen, in denen original nicht Englisch gesprochen wird, sind längst nichts Neues. Mit «Haus des Geldes» kommt sogar eine der beliebtesten Serien des Jahres nicht etwa aus den USA, sondern aus Spanien. Netflix‘ Bemühungen in dieser Richtung fingen im Jahr 2015 mit dem mexikanischen «Club de Cuervos» (Foto) an, danach folgte das französische «Marseille», das aber auch zeigte, dass diese nationalen Produktionen nicht unbedingt von hoher Qualität sein müssen. Aktuell zählt der US-Dienst 23 fremdsprachige Eigenproduktionen. Ende dieses und Anfang des kommenden Jahres kommen die ersten Serien in Türkisch, Hindi und Koreanisch hinzu.
Das erhoffte Ergebnis: selbst große Namen schaffen
Nutzer im eigenen Land abzuholen, wird eine der großen Strategien von Netflix sein, um die Oberhand gegenüber den startenden neuen Streaming-Diensten zu behalten. Nur sekundär spielen auch neue Vorschriften der EU eine Rolle. Wie im linearen Fernsehen auch, forderte der Länderbund nämlich eine Quotenregelung, wobei mindestens 30 Prozent aller Produktionen im Angebot des jeweiligen Landes aus diesem stammen müssen. Diese Regelung kann Netflix allerdings einfach umgehen, indem es billig Rechte von Uralt-Serien oder Flops der einheimischen Sender aufkauft und anbietet, ohne dass besonders viele Nutzer in der Mediathek darüber stolpern würden. Einen wirklichen Effekt haben die EU-Verlautbarungen also nicht.
Ob US-Produktionen oder nationale Leckerbissen – spätestens 2020 wird sich zeigen, wem die Streaming-Vorherrschaft zukommt. Für Netflix spricht, dass der Dienst seiner Konkurrenz um Jahre voraus ist, vorgesorgt hat, seine Nutzer mittlerweile besser kennt und die nationalen Märkte bedienen will. Für Disney oder Warner sprechen die großen Namen, die Netflix künftig fehlen werden. Die Maßgabe von Netflix lautet also, auf lange Sicht eigene große Namen zu schaffen. Diese hießen bis vor Kurzem unter anderem Frank Underwood und Piper Chapman, die mit ihren Formaten bereits abtraten oder dies bald tun. Die neue Netflix-Generation könnte neben englischen auch deutsche, südamerikanische oder asiatische Namen tragen.
Es gibt 10 Kommentare zum Artikel
25.11.2018 01:32 Uhr 8
Nun ja, es gibt auch genug positive Beispiele. In Bezug auf Oldies: Desperate Housewives oder Dr. House, Fringe ist mit seiner halben 5. Staffel ein Beispiel dafür, dass Abschlussstaffeln sehr sinnvoll genutzt werden können, bezüglich aktuelleren Serien lässt sich das versöhnliche Ende von Unreal erwähnen.
Alles natürlich Geschmackssache, jedoch sollte (womöglich im Gegensatz zu einem Abschlussfilm) eine komplette Abschlussstaffel vernünftigen Autoren mehr als ausreichen, um Stories ein rundes Ende zu schreiben. Fraglich, ob es bei Lost einen qualitativen Unterschied gemacht hätte, wenn das Ende später gekommen wäre.
Viele Serien sind ohnehin auf unbestimmte Staffelanzahlen ausgelegt, da kommt jedes Ende mehr oder weniger überraschend und fühlt sich gleich "zusammengeschustert" an. Anders sieht das natürlich bei Serien wie Bates Motel, The Fall oder Eine Reihe Betrüblicher Ereignisse aus, die von vorneherein auf eine bestimmte Länge ausgelegt sind, in den Fällen kann eine verfrühte Abschlussstaffel (soweit sie denn schlecht geschrieben ist) in die Hose gehen, da sie entgegen des ursprünglichen Sendungskonzeptes entsteht. Das auch ein künstliches Strecken einer Serie mit eigentlich vordefinierter Laufzeit scheitern kann, lässt sich anhand des massiven Qualitätsverlustes bei Under The Done betrachen - wie gesagt, natürlich Geschmackssache.
So oder so sind schlechte Serienenden wohl weniger darin begründet, das Geschichten sich innerhalb einer abschließenden Staffel von mindestens 6 Stunden (8x45min) nicht zuende erzählen lassen können, sondern an mangelnder Qualität der Drehbücher.
Wirklich frustrierend sind m.M.n. Absetzungen ohne(!) Abschlussstaffeln/ -filme.
25.11.2018 08:50 Uhr 9
26.11.2018 20:38 Uhr 10
Aber gerade Sense8 hat auch erst nach massivsten Fan Protesten einen Abschlussfilm bekommen.
Netflix macht sich bei mir schon extrem unbeliebt und ich habe auch immer weniger Lust mir etwas neues dort anzusehen- eben genau aus dem Grund, dass man ohne mit der Wimper zu zucken Serien ohne richtiges Ende absetzt.