Der drittletzte Fall des altbekannten Bremer Ermittlerduos schlägt leise, nachdenkliche Töne an.
Cast und Crew
- Regie: Philip Koch
- Darsteller: Sabine Postel, Oliver Mommsen, Peter Heinrich Brix, Dieter Schaad, Jan Krauter, Hiltrud Hauschke, Matthias Brenner, Camilla Renschke, Nils Dörgeloh, Dörte Lyssewski, Jana Lissovskaja
- Drehbuch: Katrin Bühlig
- Kamera: Jonas Schmager
- Schnitt: Friederike Weymar
- Redaktion: Annette Strelow
- Produktionsfirma: X Filme
Die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) müssen sich mit einem Mord und Suizidversuch befassen: Der Rentner Horst Claasen (Dieter Schaad) hat in den heimischen vier Wänden seine demenzkranke Frau Senta (Liane Düsterhöft) mit einem Kissen erstickt und anschließend versucht, sich durch eine Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen. Durch diesen Vorfall wird Lürsen und Stedefreund erst bewusst, dass sie sich mit dem Tabuthema Pflegenotstand bislang überhaupt nicht befasst haben.
Während ihrer Ermittlungen tun sich für die Beiden regelrechte Abgründe auf: War der Mord eine Verzweiflungstat eines Mannes, der sich nicht weiter die häusliche Pflege seiner Gattin leisten kann und aus Überforderung (oder gar Mitleid, ihr keine gute Pflege leisten zu können) durchgedreht ist?
Darüber hinaus zeigt sich, dass Claasen die Lage seiner Frau auch im Familienkreise geheim gehalten hat: Sohn Sven Claasen (Nils Dörgeloh) wusste nichts von der Krankheit seiner Mutter. Der Gutachter Carsten Kühne (Peter Heinrich Brix) gewährt derweil den schockierten Ermittler und einen Einblick in den Alltag schlecht bezahlter Pflegenden und zeigt ihnen auf, dass es einen toten Winkel im Pflegesystem gibt. So stoßen die Hauptkommissare auf den Fall einer bettlägrigen Frau, die nur mit mangelnder Fachkompetenz versorgt wird …
Der mangelhafte Stand des deutschen Pflegesystems sorgt nicht nur regelmäßig für Schlagzeilen, er ist als gesellschaftliches Streit- und Tabuthema auch ein beliebtes Sprungbrett für öffentlich-rechtliche Krimis geworden. Kein Wunder, nehmen sich diese doch gerne gesellschaftlich heiß diskutierten Themen an, um Missstände in der verdaulichen Form einer Kriminalerzählung anzuklagen. Bevor die von Sabine Postel und Oliver Mommsen verkörperten Ermittler Inga Lürsen und Nils Stedefreund 2019 ihren letzten Fall angehen, widmen auch sie sich auf den letzten Metern dem Pflegenotstand – und das in sehr leisen, nachdenklichen Tönen.
Schon die erste Sequenz setzt den Tonfall für den restlichen Film: Dieter Schaad spielt den unglücklichen Horst Claasen einfühlsam und mit herzzerreißender Freundlichkeit. Sein betont höflicher Anruf beim Polizei-Notdienst droht auf dem Papier, unfreiwillig komisch zu sein, doch Schaads erschöpft-warmherziges Spiel macht die Szene glaubwürdig und lässt sie lange nachhallen, etabliert sie doch die entscheidende Feststellung dieses Krimis: Die mangelnden Pflegemöglichkeiten in der alternden Bundesrepublik lassen selbst die freundlichsten Menschen zu verzweifelten Maßnahmen greifen.
Neben Schaad glänzt unter anderem auch Dörte Lyssewski in der Rolle der von der Pflege ihrer Mutter überforderten Akke Jansen, die kurz vorm Nervenzusammenbruch zu stehen scheint – nicht nur, weil ihre Mutter sehr anstrengend zu pflegen ist, sondern auch, weil sie sich selber unter Druck setzt, verständnisvoller zu sein als ihrem Nervenkostüm möglich. Diese beiden Figuren, die sozusagen als Exempel für die emotionalen Folgen des Pflegenotstands dienen, prägen dieses von Katrin Bühlig nahezu frei von der üblichen «Tatort»-Formel verfasste Drama und dienen als (potentielle) Identifikationsfiguren beziehungsweise Warnungen für Leute in ähnlichen Problemsituationen.
So, wie Bühlig nur vereinzelte «Tatort»-Standardelemente übernimmt (wie den nahezu obligatorischen zweiten Tod in der zweiten Filmhälfte), inszeniert Philip Koch «Tatort – Im toten Winkel» atypisch: Fast durchweg verzichtet er auf Filmmusik, die Farben sind gedämpft und die dokumentarisch geführte Handkamera scheint Mäuschen zu spielen. All dies unterstreicht die erschöpfte, stille Grundstimmung des Films und seiner tragenden Figuren – da lässt es sich auch weitestgehend verschmerzen, dass die komplexe Figurenzeichnung und der Verzicht auf verurteilendes Fingerzeigen immer dann gebrochen wird, wenn die garstige Chefin des fiktiven Pflegediensts Domamed auftaucht.
«Tatort – Im toten Winkel» ist am 11. März 2018 um 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.
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