Ich liebe ja gemeinhin die Schurken in Disney-Trickfilmen. Vor allem die, die mit ihrer Boshaftigkeit überhaupt nicht hinter dem Berg halten. Es ist einfach göttlich, wenn Scar sich in sarkastischer Abneigung vor Simba und Mufasa suhlt, und wie unterhaltsam ist bitte Cruella de Vils selbstverliebt-gehässige Divenhaftigkeit? In den vergangenen Jahren tendierte Disney allerdings immer stärker zu Schurken, die von diesem Schema abweichen: Zuletzt griff Disney immer häufiger auf Plottwistschurken zurück – Figuren, die als Gute eingeführt werden und sich als Fieslinge herausstellen. Gegen eine gute Wendung ist ja nichts einzuwenden … Doch Disney vollführt diesen Trick seit einigen Jahren in einer solch hohen Schlagzahl, dass es durchschaubar wird – und das allein nimmt den jüngeren Disney-Bösewichten bereits einiges an ihrem Unterhaltungsfaktor.
Wo also sind die alten Disney-Schurken hin? Respektive: Wieso gibt es so wenig Nachschub an solchen Fieslingen? Bis einschließlich «Himmel und Huhn» aus dem Jahr 2005 gab es bloß ein einziges Mal einen Plottwistschurken in einem abendfüllenden Film der Walt Disney Animation Studios – in «Atlantis – Das Geheimnis der verlorenen Stadt», wo sich ein wissbegieriger Anführer eines Expeditionstrupps sowie seine weibliche rechte Hand als zwei raffgierige Söldner herausstellen. Seit «Triff die Robinsons» aus dem Jahr 2007 wiederum gab es fünf Produktionen der Walt Disney Animation Studios, in denen im dritten Akt herauskommt: "Oh nein, diese Figur, die wir für gut gehalten haben, ist böse!"
In «Triff die Robinsons» stellt sich der müde, freundliche Zimmergenosse als gemeiner Welteroberer heraus, in «Ralph reicht's» ist der besorgte König eines Videospielreichs ein selbstsüchtiges Monstrum, in «Die Eiskönigin» zeigt sich, dass ein charmanter Adliger ein mörderischer Bube ist, in «Baymax – Riesiges Robowabohu» entpuppt sich der Mentor unseres Protagonisten zugleich als dessen ärgster Widersacher und in «Zoomania» finden wir heraus, dass die unterstützende zweite Bürgermeisterin die Strippenzieherin hinter einer die Grundpfeiler der Gesellschaft ins Wanken bringenden Verschwörung ist.
Die Grenze, die ich soeben gezogen habe, "vor «Triff die Robinsons»" und "ab «Triff die Robinsons»", ist nicht zufällig entstanden. Sie orientiert sich an einer verblüffenden Korrelation: Denn hinter den Kulissen hat sich bei den Walt Disney Animation Studios im Jahr 2006, nicht lange nach «Himmel und Huhn», eine wichtige Personalie geändert. Pixar-Guru John Lasseter wurde zum Kreativleiter des Traditionsstudios ernannt – und zu seinen ersten Amtshandlungen gehörte es, vorzuschlagen, den Schurken in «Triff die Robinsons» intensiv zu überarbeiten.
Und seither ist für Disney-Schurken nichts mehr so, wie es einmal war. In der Vor-Lasseter-Ära hatte einer von 46 Filmen einen Plottwistschurken – es bestand sozusagen eine schlappe Wahrscheinlichkeit von 2,2 Prozent, dass sich gegen Ende des Films ein Freund als Bösewicht herausstellt. Die Lasseter-Ära der sogenannten Disney-Meisterwerke umfasst unterdessen zehn Filme, von denen exakt die Hälfte einen Plottwistschurken hat. Und globaler gesagt: Durch Lasseter wuchs im Walt-Disney-Animation-Studios-Gesamtschaffen die Häufigkeit eines Plottwistschurken von den eben erwähnten 2,2 Prozent auf nunmehr 10,7 Prozent.
Genug der Zahlenspielerei – suchen wir nach Ursachen. Hat John Lasseter einfach nur einen modernen Zeitgeist bei Disney installiert, und daher den altbekannten, womöglich altmodischen Schurken abgeschafft? Klingt unwahrscheinlich, denn wenn ich mir moderne Blockbuster anschaue, gibt es noch immer viele populäre Filme, in denen der Fiesling sich von Beginn an als solcher zu erkennen gibt – mal mit guter, mal mit schaler Motiviation. Oder hat Lasseter einfach den Geschmack "seiner" Firma, der Pixar Animation Studios, mit rüber zu Disney gebracht?
Gut möglich. Es ist die wahrscheinlichste, realistischste Erklärung des Ganzen. Denn während Disney für sechs Abenteuer mit Plottwistschurken 81 Jahre und 56 Filme gebraucht hat, schaffte es Pixar innerhalb von lediglich 22 Jahren und 19 Filmen, sieben (oder gar acht) solcher Plottwistschurken anzuhäufen. In «Toy Story 2», «Die Monster AG», «WALL-E», «Oben», «Toy Story 3», «Cars 2» und «Coco» zeigen sich väterlich-wohlmeinende Figuren gegen Ende als hinterlistige Widerlinge. Und in «Die Unglaublichen» entwickelt sich ein lieber Junge, der einfach nur Anerkennung will, zum Superschurken – das jedoch deutlich früher im Film. Nehmen wir also die vorsichtigere Ziffer, kommen wir noch immer bei einer Plottwistschurken-Schlagzahl von 36,8 Prozent heraus. Das nenne ich mal ein wiederkehrendes Thema! Über ein Drittel der Pixar-Filme handelt unter anderem davon, dass nicht alle, die nett tun, auch wirklich nett sind!
Offenbar ist Kreativchef Lasseter, dem Disney eine zweite Renaissance und Pixar eine unnachahmliche Erfolgskurve zu verdanken haben, verrückt nach dieser Story. Oder, um kurz den Aluhut der Verschwörung aufzusetzen: Ist es gar nicht Lasseter allein? Schließlich ist er bei Filmen wie «Coco», in dem ein Idol als heimtückischer Selbstdarsteller enttarnt wird, gar nicht als Drehbuchautor gelistet. Ebenso wenig etwa bei «Toy Story 3», wo ein sich warmherzig gebender, Umarmungen liebender Teddybär, der glaubt, ein vermeintliches Paradies zu führen, als kaltherziger Tyrann erkannt wird, der Neuankömmlinge schlechter behandelt als seine alte Crew. Und auch bei Filmen wie «Die Eiskönigin» war er hauptsächlich kreativer Ratgeber, regte etwa Elsas hochgezogene Augenbraue zum Schluss von "Lass jetzt los" an. Den zuvorkommenden Prinzen aus dem befreundeten Königreich, der alles an sich reißen will, haben dagegen seine Unterstellten erfunden …
Weiterführende, unkollegiale Kolumnen
Nun. Das könnte allerhand erklären. Denn Kreativschaffende lassen sich oft (bewusst oder unterbewusst) von ihrem Umfeld inspirieren. Wie sonst komme ich auf die ganzen stinkwütenden Kolumnen über nervige Kritiker? Und in diesem Fall: Lasseter gab immerhin in einem Studiomemo zu,
durch ungewollte Umarmungen und weitere Fehltritte für Unwohlsein gesorgt zu haben und dass er sich obendrein ankreiden lassen muss, dass sich unter seiner Führung manche Studioteammitglieder nicht als gleichwertig geachtet und respektiert fühlen. Ganz zu schweigen von den seit Veröffentlichung des Memos ans Tageslicht gebrachten, anonymen Vorwürfen über ihn …
Anders gesagt: Der lieb wirkende, freundliche Knuddelchef, der Pixar groß gemacht und Disney aus einem schöpferischen Tief geholfen hat, hat vermeintlich eine gewaltige Schattenseite. Hmmmm ... Kommt mir so vor, als hätte ich sowas in den vergangenen Jahren verflixt oft im Kino gesehen. Wussten da ein paar Storykünstler womöglich nicht, wie sie sonst ihre Enttäuschung oder Wut über eine Person ausdrücken sollen? Ich könnte das sehr gut verstehen – negative Erfahrungen gelten seit Ewigkeiten als starkes Inspirationsmittel.
Lasseter hat sich im November 2017 von Pixar und den Walt Disney Animation Studios freigestellt, um in Abwesenheit Selbstkritik zu üben und an sich zu arbeiten. Was im Mai nach Ablauf der Freistellung passieren wird, ist bislang unklar. Vielleicht wird sich gar nichts ändern, vielleicht wird er sich sehr wohl löblicherweise ändern, vielleicht muss er gehen. Vielleicht stimmen die ganzen Anschuldigungen auch gar nicht und Lasseters Memo war mit zu heißer, überdramatischer Nadel gestrickt. Wer weiß das schon? Eines weiß ich aber ganz genau: Ich werde Disneys und Pixars Plottwistschurken so schnell nicht mehr aus demselben Blickwinkel betrachten können wie einst.
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel