Robin Campillos Drama «120 BPM» geht für Frankreich ins Rennen um den Oscar und wurde bereits auf dem Filmfestival von Cannes mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet.
Filmfacts: «120 BPM»
- Kinostart: 30. November 2014
- Genre: Drama
- FSK: 16
- Laufzeit: 140 Min.
- Kamera: Jeanne Lapoirie
- Musik: Arnaud Rebotini
- Buch: Robin Campillo, Philippe Mangeot
- Regie: Robin Campillo
- Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel, Antoine Reinartz, Ariel Borenstein, Félix Maritaud
- OT: 120 battements par minute (FR 2017)
Auf den ersten Blick scheint es unglaublich: Anfang der Neunzigerjahre wurden Themen wie AIDS oder sexuelle Aufklärung allgemein von der französischen Regierung totgeschwiegen. Das Ergebnis war eine regelrechte Epidemie an Neuerkrankungen – Werbekampagnen wie der berühmte „Gib AIDS keine Chance“-Slogan fanden ganz einfach nicht statt. Doch nicht nur in Frankreich herrschte dieses Problem: In Deutschland begann man erst Ende der Achtzigerjahre, sich auch öffentlich mit der Artenvielfalt körperlicher Liebe auseinanderzusetzen. Völlig unabhängig davon, dass man sich seit den späten Sechzigerjahren darin bemühte, Sex als solches zu enttabuisieren. Trotzdem: Als Erika Berger 1987 mit ihrer Aufklärungssendung „Eine Chance für die Liebe“ auf Sendung ging, herrschte im gesamten Fernsehdeutschland – heutzutage überhaupt nicht mehr vorstellbar – Entrüstung. Zeitgleich dazu erhielt das Thema AIDS-Prävention Einzug in den Sexualkundeunttericht in der Schule; in Frankreich erst etwa 10 Jahre später. Während sich der französische Staatsapparat lange Zeit nicht um die Belange ihrer mit der Krankheit in Verbindung gekommenen Bürger scherte, machte es sich die Aktivistengruppe ACT UP zur Aufgabe, dieses Versäumnis selbst in die Hand zu nehmen.
Regisseur und Autor Robin Campillo («Eastern Boys») war einer von ihnen und lässt seine Erfahrungen in seine erst dritte Arbeit «120 BPM» miteinfließen. Trotz seiner subjektiven Erfahrungen, die ihm zweifelsohne einen äußerst detailreichen Blick ins Innere der Organisation ermöglichen, gelingt ihm mit seinem anklagenden Drama ein überraschend wertfreies Zeitdokument über Ungerechtigkeit und einen schier ausweglosen Kampf zwischen David und Goliath.
Paris, Anfang der 90er
Seit fast zehn Jahren wütet Aids in Frankreich, doch noch immer wird über die Epidemie in weiten Teilen der Gesellschaft geschwiegen. Mitterrands Regierung kümmert sich nicht um sexuelle Aufklärung und die Pharma-Lobby verschleppt die Entwicklung neuer Medikamente. ACT UP, eine Aktivistengruppe von Betroffenen, will auf die Missstände aufmerksam machen. Sie schmeißt Kunstblut-gefüllte Wasserbomben auf die Wände von Forschungseinrichtungen und kapert bewaffnet mit Informationsbroschüren die Klassenräume der Stadt. Wie weit die Aktionen gehen dürfen, wird bei den wöchentlichen Treffen kontrovers diskutiert. Als der 26-jährige Nathan (Arnaud Valois), der selbst HIV-negativ ist, zu ACT UP stößt, zieht ihn die Entschlossenheit der Gemeinschaft sofort in ihren Bann. Und er verliebt sich in Sean (Nahuel Pérez Biscayart), den Mutigsten und Radikalsten der Gruppe. Zusammen kämpfen sie an vorderster Front, selbst dann noch, als bei Sean die Krankheit schon längst ausgebrochen ist…
Immer wieder betonte Robin Campillo in der Vergangenheit, «120 BPM» sei definitiv keine Autobiographie. Und tatsächlich erzählt der Regisseur eine völlig fiktive Geschichte, die allenfalls von wahren Erlebnissen und Geschehnissen während seiner Zeit bei ACT UP inspiriert ist. Campillo nimmt sich viel Zeit, um die Gesinnung der Aktivistengruppe zu erklären sowie ihre Arbeitsmethoden zu veranschaulichen. Doch obwohl er sich ganz deutlich auf die Seite der Engagierten schlägt, nutzt er seinen erzählerischen Raum immer auch für Kontraste; die Zielsetzung der Gruppe ist ehrenwert, die Gegner in Form von Regierung, Pharmakonzernen und rückständischen Schulen klar als solche definiert. Doch nicht immer ist die Vorgehensweise der ACT-UP-Mitglieder mit jedermanns Verständnis für Moral und Anstand vereinbar. Das Werfen von Kunstblut-Beuteln ist da noch das Harmloseste. Das Fordern von Automaten für kostenloses Spritzbesteck ist dagegen schon weitaus fragwürdiger und lässt die vor allem aus selbst bereits Infizierten bestehende Aktivistengruppe mitnichten als eindimensional-heldenhafte Aufklärer erscheinen.
«120 BPM» handelt von engagierten Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, ganz Frankreich über AIDS sowie AIDS-Verhütung aufzuklären und im besten Fall sogar die Forschung an neuen Medikamenten anzutreiben. Dass immer dort, wo Menschen interagieren, auch Dinge passieren können, die weniger rühmlich sind, verschweigt Campillo nicht und macht seinen Film dadurch nur noch authentischer.
Mit radikalen Mitteln gegen das Unwissen
Von den intensiven, nie theoretischen, sondern immer auch im Zusammenhang mit ins Geschehen involvierten Persönlichkeiten geschilderten Beobachtungen rund um ACT UP geht «120 BPM» schließlich über in eine intime Liebesgeschichte, aus der alsbald ein herbes Krankheits- und Sterbedrama wird. Dass sich der Regisseur dafür entschieden hat, den zu Beginn immer nur nüchtern geschilderten Krankheitsverlauf schließlich auch noch direkt zu zeigen, ist gewagt und lässt den Film wie zweigeteilt wirken. Gleichermaßen umschließt Robin Campillo die erste und zweite Hälfte mit einer bittersüßen Klammer, die nicht bloß den unbedingten Willen nach Gerechtigkeit des erkrankten Sean zum Ausdruck bringt, sondern auch aufzeigt, dass der dato stattgefundene Kampf um die längst überfällige Aufklärung keiner Hysterie entstammt. Passend zum nicht bloß auf den begleitenden Technoscore anspielenden Titel «120 BPM» – also 120 Beats per minute, Schläge pro Minute – tickt die Uhr für die Patienten nämlich so schnell, dass man sich ein Warten auf die Entwicklung neuer Medikamente schlicht nicht leisten kann; und die Wut auf die Pharmaindustrie beim leisesten Verdacht auf zurückgehaltene Erkenntnisse umso größer ist.
Das daraus resultierende fehlende Verlangen nach Diskussion und Auseinandersetzung mit den zuständigen Institutionen mag manch einem Zuschauer durchaus kindisch vorkommen. Doch wie wenig die trockene Auseinandersetzung bringt, in der sich beide Parteien argumentierend gegenüber sitzen, veranschaulicht «120 BPM» ebenso, wie er aufzeigt, dass auch das Werfen von Blutbomben nur für den Moment Erleichterung bringt. Doch nicht immer rennen die Mitglieder von ACT UP gegen Wände: Eine Aktion an einer französischen Schule veranschaulicht hervorragend, wie sich ihre Pläne eben doch umsetzen lassen, wenn die eine Seite forciert genug arbeitet und die andere Seite (zumindest im Ansatz) aufgeschlossen ist.
Doch wäre es den Verantwortlichen lediglich um ein Porträt von ACT UP gegangen, hätte es auch eine Dokumentation getan. Was «120 BPM» so besonders macht, sind die zwischenmenschlichen Erzähltöne, die in der zweiten Hälfte noch wesentlich tiefer in die Magengrube treffen, als die Ignoranz der Umstehenden. Robin Campillo veranschaulicht das nahezu unmenschliche Dahinsiechen eines AIDS-Kranken in all seinen Stadien bis hin zum Tod – und lässt dabei auch das Umfeld der Erkrankten nicht außer Acht. Vom gängigen Feelgood-Kino, das sich gerade im Zusammenhang mit Krankheits-Schicksalen in den letzten Wochen und Monaten etabliert hat, ist in «120 BPM» nichts zu spüren. Am Ende des Films steht keine große Erkenntnis, genauso wenig wie es dem Patienten auf der Zielgeraden noch einmal möglich gewesen wäre, seine schwierige Lage für etwas Größeres zu nutzen. Darüber hinaus hat sein Tod weder etwas Inspirierendes, noch etwas, woraus sich für seine Freunde und Familie Kraft schöpfen lässt.
Candillo zeigt in schonungsloser Radikalität auf, dass eine Krankheit wie AIDS grauenvoll ist, wodurch die ewig gleichen Phrasen der Pharmakonzerne rückwirkend fast schon hämisch daherkommen. Ins Melodramatische rutscht «120 BPM» indes vor allem deshalb nicht, da der Regisseur und Autor nie den Dreh ins Mitleidige sucht, sondern der Hilflosigkeit Wut folgen lässt – und natürlich aufgrund seiner herausragenden Darsteller. Nur einmal erlaubt sich Candillo einen stillen Moment der Trauer – es ist jener, in dem man realisiert, das man nicht bloß zweieinhalb Stunden lang Zeuge von aufopferungsvollem Engagement für die gute Sache war, sondern auch einer starken Liebesgeschichte.
Fazit
«120 BPM» erzählt zunächst differenziert und detailreich von der Aktivistengruppe ACT UP, die sich Anfang der Neunzigerjahre für eine großflächige Aufklärung über AIDS einsetzte und wird in der zweiten Hälfte schließlich zum herben Sterbedrama, das von seinen herausragenden Darstellern getragen wird und in seiner Radikalität schockiert.
«120 BPM» ist ab dem 30. November in den deutschen Kinos zu sehen.
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