Pixar taucht ins Reich der Toten ab – und erzählt dort eine energiereiche, dennoch berührende, aber auch witzige Geschichte über Familie, Trauer und Inspiration.
Filmfacts: «Coco»
- Regie: Lee Unkrich
- Ko-Regie: Adrian Molina
- Produktion: Darla K. Anderson
- Drehbuch: Adrian Molina, Matthew Aldrich
- Story: Lee Unkrich, Adrian Molina, Jason Katz, Matthew Aldrich
- Musik: Michael Giacchino
- Kamera: Matt Aspbury, Danielle Feinberg
- Schnitt: Steve Bloom, Lee Unkrich
- Laufzeit: 105 Minuten
- FSK: ohne Altersbeschränkung
Von 1995 bis 2010 hatten die Pixar Animation Studios einen glanzvollen, beinahe beispiellosen Lauf: Jeder einzelner ihrer Langfilme erhielt mindestens eine Oscar-Nominierung, meistens winkte dem Studio sogar einer der begehrten Academy Awards. Und an den Kinokassen lief es rund bis herausragend. Doch mit «Toy Story 3» erreichte diese Phase in Pixars Schaffen ihr großes Finale. Es folgte eine durchwachsen aufgenommene Ära der Pixar-Filme. Die Academy of Motion Picture Arts & Sciences schenkte nicht weiter jeder einzelnen abendfüllenden Pixar-Produktion Aufmerksamkeit. «Cars 2» wurde von der Kritik verrissen, «Merida» und «Die Monster Uni» wurden wohlwollend aufgenommen, aber teils auch kritisch beäugt. «Alles steht Kopf» war wieder ein waschechter Volltreffer, kurz danach war «Arlo & Spot» eine herbe wirtschaftliche Enttäuschung und zudem wahrlich kein Kritikerliebling. «Findet Dorie» schwamm im Anschluss obenauf, «Cars 3» wurde wiederum zumeist mit Gleichgültigkeit begrüßt.
Ob «Coco» nun einen Wendepunkt markiert oder, wie «Alles steht Kopf», nur einen Ausreißer nach oben, wird sich natürlich erst noch zeigen müssen – das ist eine Frage, deren Antwort sich erst mit den nächsten paar Pixar-Filmen offenbart. Bemerkenswert ist dennoch, dass dies, sieben Jahre nach «Toy Story 3», die erste Regiearbeit von Lee Unkrich ist – dem Mann, der den ungeheuerlich rührenden, als "Bester Film" für den Oscar vorgeschlagenen Spielzeugfilm inszenierte. Außerdem ist es der seither erste Film, bei dem Darla K. Anderson wieder als Produzentin fungiert – die Frau, die zuvor von diesem Posten aus unter anderem «Die Monster AG» und «Toy Story 3» verantwortete. Hellhörig darf man da durchaus werden – und dann nimmt sich dieses Filmemacher-Team zudem einem faszinierenden, in der Filmkunst bislang selten beachteten Thema an: «Coco» ist vom mexikanischen Feiertag Día de Muertos inspiriert, einem farbenfrohen Fest, in dem die Erinnerung an verstorbene Familienmitglieder zelebriert wird.
Regisseur Lee Unkrich, der auch an der Story dieses fantastischen Trickabenteuers mitwirkte, kam auf die Idee, als er sich näher über die jährliche Festivität in seinem Nachbarland informierte. Die wie selbstverständlich erfolgte Gegenüberstellung von in vielen Kulturkreisen als schaurig konnotierten Bildern wie Skeletten einerseits und andererseits munterer Musik sowie kräftigen, frohen Farben faszinierte ihn, weshalb er mehr über den Gedanken hinter dem Día de Muertos erfahren wollte. Die so familienverbundene, den Wert des Erinnerns und Zusammenhalts hochhaltende Idee des Fests bewegte ihn letztlich so sehr, dass er seine Gefühle und Gedanken in Filmform verarbeiten wollte.
Noch mehr Días de Muertos
2014 brachte die kleine Trickschmiede Reel FX Creative Studios mit «Manolo und das Buch des Lebens» eine ebenfalls sehr farbenfrohe Produktion über den Feiertag heraus. In der göttlichen Romantikkomödie geht es um einen Matador, der eigentlich Musiker sein möchte, höhere Mächte, die liebend gern wetten, und ein magisches Buch. Mehr über den liebenswerten Geheimtipp
gibt es in unserer Filmkritik.
Diese Verquickung aus sehr persönlicher Erfahrung und einem kulturellem Ereignis ist «Coco» tatsächlich durchweg anzumerken: Es ist insofern ein sehr spezieller, daher reizvoll-andersartiger Film, weil diese zirka 175 Millionen Dollar teure Produktion einem Feiertag gewidmet ist, den es so nur in Mexiko gibt und mit dessen Eigenheiten Menschen aus anderen Ländern kaum Berührungspunkte haben. Das führt zu einer erfrischenden Bildsprache und einem fesselnden Erkenntnisgewinn, den der x-te Weihnachtsfilm so beispielsweise niemals bieten könnte.
Gleichzeitig ist Día de Muertos nur die (perfekt zum Inhalt passende) Fassade für eine rührende sowie humorvolle, charaktergestützte Geschichte, die authentische Gefühlsregungen beinhaltet und die gleichzeitig so allgemeingültige Werte beinhaltet, dass sich alle geneigten Kinogehenden mit dem Leinwandgeschehen identifizieren können.
Denn die von Lee Unkrich, seinem Ko-Regisseur Adrian Molina sowie Jason Katz und Matthew Aldrich erdachte Erzählung deckt nicht nur das Thema Tod ab, und die Frage, wie wir mit dem Versterben geliebter Menschen umgehen sollen. «Coco» sinniert auch darüber, wie wir mit dem Erbe von Menschen umgehen können, die der eigenen Familie Schmerz zugefügt haben. Das handlungstreibende Thema ist allerdings weitaus vitaler: Der zwölfjährige Held dieser Komödie, der muntere Miguel, träumt davon, Musiker zu werden. Seine Familie verpönt Musik allerdings – und so entsteht nicht nur ein Miguel vom Diesseits ins Jenseits führendes Abenteuer, sondern auch eine beiläufig erzählte, mehrschichtige Abhandlung darüber, wie es ist, wenn eine individuelle Passion bei den Anvertrauten auf keinerlei Gegenliebe stößt. Und ganz nebenher wird die bei Pixar bereits mehrmals angepackte Furcht vor dem Vergessen aus einer neuen Perspektive betrachtet.
All dies garniert Pixar liebevoll mit Verneigungen vor Mexikos Kultur. Um sicherzustellen, dass «Coco» eine respektvolle Verneigung darstellt, statt einen weiteren Fall, in dem sich ein US-Konzern freimütig an fremdem Kulturgut vergreift, wurde Unkrich von den lateinamerikanischen Mitarbeitern Pixars sowie einem Beraterstab aus mexikanischen Künstlern unterstützt – darunter auch vom Karikaturisten Lalo Alcaraz. Dieser wurde von Pixar kontaktiert, nachdem er in der frühen «Coco»-Produktionsphase einen kritischen Zeitungscartoon über das Projekt veröffentlichte.
Doch davon abgesehen, dass Pixars «Coco» nach Disneys «Vaiana» der zweite Animationsfilm innerhalb kurzer Zeit ist, der sich mit neuer Sensibilität an andere Kulturen nähert, ist dieser in Mexiko sämtliche Rekorde brechende Trickspaß vor allem eins: Toll erzählte Unterhaltung, die die lieben Kleinen behutsam, aber unverblümt an das Thema Tod heranführt und die Älteren mit einer Fülle an Einfällen verzaubert. Die farbenprächtige, toll durchdachte Welt der Toten ist eine aufwändige, detailreiche Augenweide. Die Figuren sind facettenreich skizziert und die Instrumentalmusik von Michael Giacchino ist eine komplexe, aber eingängige Verschmelzung aus zahlreichen folkloristischen und regionale Grenzen überschreitenden Einflüssen.
Manche der Charakterentwicklungen werden zwar weiter im Voraus telegrafiert als nötig, andere Male werden Gags einen Takt zu lang ausgekostet, so dass sie die narrative Spannung überdehnen – insgesamt ist «Coco» aber ein sehr effizient erzählter, visuell beeindruckender, humorvoller und einfühlsamer Trickfilm mit Herz, Hirn und Verve. Weiter so, Pixar!
Fazit: Rührend, einfühlsam und dennoch ein wahres Fest von einem Film!
«Coco» ist ab dem 30. November 2017 in vielen deutschen Kinos zu sehen – in 2D und 3D.
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