Fatih Akins Rachedrama «Aus dem Nichts» geht für Deutschland ins Oscar-Rennen. Nie war der Academy Award so verdient, wie in diesem Jahr – nicht bloß wegen einer famosen Diane Kruger.
Filmfacts: «Aus dem Nichts»
- Kinostart: 23. November 2014
- Genre: Thriller/Drama/Crime
- FSK: 16
- Laufzeit: 106 Min.
- Kamera: Rainer Klausmann
- Musik: Josh Homme
- Buch und Regie: Fatih Akin
- Darsteller: Diane Kruger, Denis Moschitto, Numan Acar, Johannes Krisch, Samia Muriel Chancrin, Ulrich Tukur
- OT: Aus dem Nichts (DE/FR 2017)
Es ist kein verzweifelter Vater im Monsterkostüm auf der Suche nach Anschluss zu seiner geschäftstüchtigen Tochter («Toni Erdmann»). Es ist auch nicht die bislang weitestgehend unter Verschluss gehaltene Vorgeschichte der Frankfurter Ausschwitzprozesse Ende der Fünfzigerjahre («Im Labyrinth des Schweigens»). Und es ist auch keine noch so niederschmetternd-nüchterne Kindergeschichte von Vorzeige-Zyniker und Cannes-Dauergast Michael Haneke («Das weiße Band»). Stattdessen ist es der schmerzhaft-realistische Leidensweg einer Witwe und Mutter, gespielt von Diane Kruger, der zum ersten Mal überhaupt ein Gespür dafür gibt, wofür so ein Filmpreis wie der Academy Award überhaupt ins Leben gerufen wurde. «Aus dem Nichts» heißt das Drama, das in diesem Jahr als deutscher Beitrag in die Vorauswahl der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ geschickt wird; inszeniert von «Gegen die Wand»-Regisseur Fatih Akin, der, zu diesem Schluss kommt man nach 108 zermürbend-intensiven Minuten seines – im schlimmsten wie im besten Sinne – furchtbaren Films, vor allem eines ist: wütend! Wütend auf die Existenz niederster Gewalt, sinnlosen Rassenhasses und auf die bisweilen nicht von der Hand zu weisende Unfähigkeit des deutschen Staats- und Ermittlungsapparates.
Wie selbstverständlich stellt er sich in seinem, von den Terroranschlägen der Organisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) inspirierten Rachedrama an die Seite eines der Opfer, das von jetzt auf gleich alles verliert; Familie, Lebensmut, den Glauben an das Gute im Menschen und später in die Gerechtigkeit. «Aus dem Nichts» ist damit alles andere als ein deutscher Film. Hier wird nicht diplomatisiert, hier wird gehandelt – und wenn das bedeutet, dass getan wird, was getan werden muss, obwohl es eigentlich nicht getan werden darf.
Und plötzlich ist alles anders
Aus dem Nichts zerbricht Katjas (Diane Kruger) Leben: Ihr Mann Nuri (Numan Acar) und ihr Sohn Rocco sterben bei einem Bombenanschlag in einem Türkenviertel in der Hamburger City. Die Polizei geht davon aus, dass Nuri die Schatten seiner Vergangenheit als Drogendealer eingeholt haben. Je weniger Vertrauen Katja in die gezielt gegen ihre Familie arbeitenden Ermittler hat, umso mehr zerbricht sie am Leid und Kummer. Als auch Drogen der jungen Frau nicht mehr dabei helfen können, den Schmerz zu betäuben, begeht sie einen Suizidversuch – und rettet sich gerade noch rechtzeitig, um von ihrem Anwalt Danilo Fava (Denis Moschitto) zu erfahren, dass die Beamten zwei Verdächtige geschnappt haben. Bei André und Edda Möller (Ulrich Brandhoff, Hanna Hilsdorf) handelt es sich um ein junges Neo-Nazi-Paar. Der Prozess gegen die beiden ist trotz erdrückender Beweislage ein zermürbendes Ereignis – und in Katja schwillt der Gedanke an Gerechtigkeit. Für sie gibt es keine Alternative…
In einem entscheidenden Moment in «Aus dem Nichts» hält Denis Moschitto («Amelie rennt») in seiner Rolle als Anwalt in einem ungeplanten Plädoyer eine regelrechte Wutrede auf die niederen Befragungsmethoden des grandios widerlich aufspielenden Johannes Krisch («A Cure for Wellness») in der Rolle des Verteidigers. Nach Sekundenbruchteilen der Stille ertönt plötzlich Applaus im Gerichtssaal, gefolgt von den dumpfen Schlägen des Richterhammers. Es sind solche Szenen, in denen sich Fatih Akin geschickte Manipulation zu Gunsten der zunächst klar als Opfer ausgelegten Katja vorwerfen ließe. Doch manchmal sind die Dinge ganz einfach: Zu keinem Zeitpunkt käme man als Zuschauer auf die Idee, für Danilos Vorwürfe in Richtung Gegenseite nicht ebenfalls aufspringen und ihn zu so deutlichen (und längst überfälligen!) Worten beglückwünschen zu wollen – den Applaus, man hört ihn schon, bevor Akin ihn überhaupt stattfinden lässt. «Aus dem Nichts» ist mit seiner Konzentration auf die Figur der Katja gewiss nicht subtil, aber schlussendlich darf er das auch gar nicht sein. Die Positionen sind so klar verteilt, dass es vollkommen außer Frage steht, wer in diesem Opfer-Täter-Konstrukt zu welcher Seite gehört.
Auf der einen Seite sitzen die hämisch grinsenden, die Ideologie Adolf Hitlers verehrenden Bombenbauer, die es für ihre verquere Weltsicht in Kauf nehmen, dass Unschuldige nur aufgrund ihrer vermeintlich falschen Ethnie entweder selbst ums Leben kommen, oder – wie in diesem Fall – Mann und Kind verlieren. Auf der anderen Seite sitzt die Person, die gezwungen ist, solch eine Unmenschlichkeit zu ertragen; und ertragen nimmt Fatih Akin in «Aus dem Nichts» äußerst wörtlich; etwa wenn sich Krugers Katja tapfer den entsetzlich detaillierten Bericht der Ärztin anhören muss, die davon berichtet, wie qualvoll ihr Sohn Rocco durch die Splitterbombe gestorben ist.
Diane Kruger in der Rolle ihres Lebens
Wenn Diane Kruger («Inglourious Basterds») – die in «Aus dem Nichts» zweifellos die mit Abstand beste Leistung ihrer bisherigen Karriere abliefert und in Cannes dafür völlig zu Recht mit der Goldenen Palme als „Beste Schauspielerin“ ausgezeichnet wurde – im nächsten Moment aufspringt, um den Peinigern ihrer Familie an die Gurgel zu gehen, möchte man die junge Frau nicht zurückhalten (nicht einmal das hohe Gericht sieht es ihr in diesem Moment nach – ein Funken Hoffnung in einem vielleicht mitunter zu emotionslos geführten Rechtssystem). Der auch für das Skript zuständige Fatih Akin geht in seinem Film nicht umsonst einen Weg über drei verschiedene Genres, beginnt beim markerschütternden Familiendrama, nimmt den Abstecher über den Gerichtsfilm und mündet in einen Rachewestern von beneidenswerter Konsequenz. Um die Frage nach der Vertretbarkeit von Rache und Selbstjustiz geht es dem gebürtigen Deutschen mit türkischen Wurzeln allerdings überhaupt nicht; und an dieser Stelle geht Akin dann auch den einzig richtigen Weg im Kampf gegen sinnlose Gewalt. Er verzichtet auf sein Urteil. Stattdessen bleibt er auch im letzten Drittel konsequent auf Augenhöhe mit seiner Protagonistin und lässt uns damit nicht bloß an ihrem Schmerz teilhaben, sondern führt uns auch ihren Wandel vor Augen, als aus der – im wahrsten Sinne des Wortes – am Boden liegenden Witwe eine abgeklärte Bombenbauerin wird.
Die moralischen Zweifel lässt Akin dabei nie außer Acht; diese Katja ist nicht bloß von Rachegelüsten getrieben. In ihr schlummert neben dem Verlangen nach Vergeltung auch der Wunsch nach einem Abschluss, symbolisch unterfüttert von unfertigen Tattoos und Menstruationsblut. Doch was tun, wenn Rache das Einzige ist, wodurch ein Opfer endlich Frieden findet? für Akin kein Tabu, sondern eine, gerade in diesem Zusammenhang, absolut naheliegende Fragestellung, die wiederum er sich sogar traut, zu beantworten.
Wütend, radikal, kontrovers
«Aus dem Nichts» ist von der ersten bis zur letzten Sekunde auf seine Hauptfigur zugeschnitten. Das führt mitunter dazu, dass alles um sie herum bisweilen nur schemenhaft und sogar überzeichnet erscheint. Außer ihr, und vielleicht in Ansätzen der in ihrem Sinne handelnde Anwalt, sind alle Charaktere um sie herum auf ihre Funktionen im System beschränkte Stereotypen – und auch damit trifft es Akin leider erschreckend gut. Wenn der entsetzlich abgeklärte Strafverteidiger Haberbeck mit allen Mitteln versucht, seine gleichermaßen widerwärtigen Mandanten in ein besseres Licht zu rücken, indem er die Nebenklägerin degradiert und demütigt, oder ein gekauftes Alibi aus dem Hut zaubert, als wäre es das Leichteste der Welt, dann möchte man als Zuschauer genau das tun, was auch Katja in diesem Moment gern täte: Ihnen allen der Reihe nach die Fresse polieren. Das klingt nicht nur radikal, es erweckt auch den Eindruck, als schüre Fatih Akin sogar beim Zuschauer gezielt Rachegelüste; erst recht, da er ziemlich schnell erkennen lässt, dass hinter dem im Film den größten Teil einnehmende Part der Gerichtsverhandlung gar nicht das Ziel steckt, tatsächlich Aufklärung zu betreiben; dass das Nazi-Pärchen schuldig ist, steht also von Anfang an außer Frage.
Doch genau so verhält es sich im ersten Drittel des Films, nur andersherum, wenn die Polizei mit allen Mitteln versucht, ihre eingeschränkte, festgefahrene Sicht der Dinge durchzusetzen und die Opfer zum (Mit-)Täter zu machen – ein deutlicher Seitenhieb in Richtung der Pannen, die bei den echten Ermittlungen der NSU-Morde dafür sorgten, dass die Täter erst viel zu spät gefasst werden konnten. «Aus dem Nichts» ist in jeder Hinsicht radikal, duldet keine Zwischentöne und trifft damit den Kern der Sache: Die Täter von einst waren an diesen schließlich ebenso wenig interessiert.
Die rasende Wut in Katja, die im Verlauf der knapp eindreiviertel Stunden immer wieder von manischer Lethargie durchbrochen wird, manifestiert sich in der flirrenden Kameraarbeit Rainer Klausmanns («Tschick»), der die drei verschiedenen, durch die Kapitel «Die Familie», «Gerechtigkeit» und «Das Meer» getrennten Filmabschnitte in ganz unterschiedlichen Bildern einfängt. Auf den fiebrig-verschwommenen, zum Ende hin immer mehr aufklarenden ersten Akt folgt die fast schon dokumentarisch anmutende Gerichtsverhandlung, abgeschlossen schließlich von den verwaschenen Bildern Griechenlands, das aus der stets subjektiven Perspektive von Katja nichts mehr mit einem Urlaubsparadies zu tun haben. Dazwischen blendet Akin immer wieder Aufnahmen von Homevideos ein – vielleicht der einzige Makel als «Aus dem Nichts», der so ein generisches Moment zwecks zusätzlicher Emotion und Dramatik gar nicht gebraucht hätte. Zwischendurch experimentiert Klausmann mit Zeitlupen und extremen Close-Ups – dass in dieser Geschichte ausschließlich das Leid einer einzelnen Person im Fokus steht, steht außer Frage.
Da werden selbst Momente bitterster Grimmigkeit, wie etwa die Aussage von Katjas Schwiegermutter, sie würde eine Mitschuld an dem Tod ihres Enkels tragen, zu einer Randnotiz, die dieser Wand aus Lähmung und Schmerz nichts mehr hinzuzufügen hat. «Aus dem Nichts» ist ein Film darüber, was Menschen dazu bringt, über ihre Grenzen hinaus zu gehen – ein Film über die Liebe.
Fazit
Fatih Akin gelingt mit «Aus dem Nichts» ein famoses Schlachtengemälde über Schmerz, Wut, Trauer und den bedingungslosen Willen, um das zu kämpfen, was einen am Leben hält – und wenn es das Verlangen nach Vergeltung ist.
«Aus dem Nichts» ist ab dem 23. November in den deutschen Kinos zu sehen.
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