Hans-Christian Schmids Serie um eine verschwundene junge Frau und die Suche ihrer Mutter mag ästhetisch und narrativ beeindrucken - ihre moralisierende Botschaft stößt jedoch sauer auf.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Julia Jentsch als Michelle Grabowski
Johanna Ingelfinger als Manu Essmann
Saskia Rosendahl als Laura Wagner
Elisa Schlott als Janine Grabowksi
Mehmet Atesci als Tarik Karamann
Nina Kunzendorf als Steffi Essmann
Sebastian Blomberg als Leo Essmann
Stephan Zinner als Gerd Markwart
Michael A. Grimm als Helmut Wagner
Hinter der Kamera:
Produktion: 23/5 Filmproduktion und Mia Film
Drehbuch: Bernd Lange und Hans-Christian Schmid
Regie: Hans-Christian Schmid
Kamera: Yoshi Heimrath
Produzenten: Britta Knöller und Hans-Christian SchmidAuf den ersten Blick ist das Verhältnis der neunzehnjährigen Janine Grabowski (Elisa Schlott) zu ihrer doppelt so alten Mutter Michelle (Julia Jentsch) nicht das Schlechteste. Doch die beiden Frauen haben sich zunehmend entfremdet, seit Janine in ihrer eigenen Wohnung lebt. Dass sie die Ausbildung, die sie direkt nach ihrem Abitur begonnen hatte, schon wieder hingeschmissen hat, führt zum ersten größeren Streit in dieser Serie, an dem wir erkennen können, dass der Konflikt schon lange vor sich hin schwelt.
Janines beste Freundinnen sind im selben Alter und heißen Manu (Johanna Ingelfinger) und Laura (Saskia Rosendahl). Neben – oder vielmehr ergänzend zu ihrer alterstypsichen Freizeitgestaltung, den durchtanzten und durchzechten Nächten in Bars und Clubs, teilen sie eine weitere Leidenschaft: Crystal Meth. Die drei jungen Frauen unterscheiden sich durch die sozioökonomischen Umstände ihrer Familien; die sind für die Dramaturgie nicht unwichtig, spielen im Verhältnis der Drei untereinander aber gar keine Rolle: Während Manu wohlhabende Eltern mit einem opulenten Anwesen und einem Ferienhaus hinter der nahegelegenen tschechischen Grenze hat, ist bei Lauras Eltern aus der Mittelschicht das Geld knapp. Vielleicht ist auch das die Kernmotivation ihres etwas archaischen, aber betont gutmütig geführten Vaters, sie mit aller Müh durch das letztes Jahr verpatzte Abitur zu manövrieren. Janine derweil hat zu ihrem Vater keinerlei Kontakt – und auch die Beziehung ihrer Mutter zu einem späteren Partner, aus der ihre kleine Halbschwester Eva stammt, ist schon vor langer Zeit in die Brüche gegangen.
Und dann, gerade als Michelle und Janine sich über ihre latenten, sich nun zuspitzenden und sicherlich quälenden Konflikte endlich in Ruhe aussprechen wollen, ist Janine einfach weg. Ihre Wohnung ist verwüstet, ihr Auto liegt im Straßengraben. Dennoch sieht die Polizei keinen Grund zur Besorgnis, vor allem der archaisch-grobschlächtige Gerd Markwart (Stephan Zinner). Die paar Gramm Crystal Meth, die er in ihrem liegengebliebenen Wagen auf dem Armaturenbrett sicherstellt, reichen ihm hierfür als klares Indiz: Wenn sie erst einmal wieder runterkommt und ihr bei dem ganzen Feiern in Tschechien das Geld ausgegangen ist, wird sie schon wieder auftauchen.
Michelle Grabowski macht sich nun selbst auf die Suche – und hierin liegt das dramaturgische Hauptmotiv dieser Mini-Serie. Eine erste Spur führt zu Tarik (Mehmet Atesci), der den jungen Frauen das Crystal Meth verkaufte – und der, wie Michelle bald erfährt, mit ihnen an einem größeren Drogengeschäft gearbeitet hatte. Nach einigem Hin und Her gelingt es Michelle auch, einen Zugang zu Manu zu finden, die von ihren Eltern zuhause eingesperrt wird, um ihre Sucht abzustellen. Und immer wieder folgen Reisen nach Tschechien, auf der immer verzweifelteren Suche, ihre Tochter wiederzufinden.
Hans-Christian Schmids großes Talent ist eigentlich das Atmosphärische. Man denke an sein fast zwanzig Jahre altes Paranoia-Drama «23», in dem es ihm vortrefflich gelang, das langsame Abgleiten seiner Hauptfigur in den Wahn, das graduelle Verwischen zwischen kokaininduziertem Traum und Realität glaubhaft und fassbar zu erzählen. «Das Verschwinden» gelingt es derweil durchaus beeindruckend, nah an einer gewissen deutschen Lebensrealität zu erzählen: dem bürgerlich-konservativen Milieu. Das Problem der Serie ist ein Anderes: die diffuse Führung ihrer Thematik, und die nicht unbedenkliche Zeichnung ihrer jungen Figuren.
Denn während – nicht zuletzt durch Julia Jentschs einnehmendes, filigranes Spiel – das Drama um eine zunehmend in der Verzweiflung versinkenden Mutter stark geschrieben und eindrucksvoll inszeniert ist, bleiben die Konflikte um die Lebensrealitäten von Manu, Laura und Janine trotz großer
Screentime und einer durchaus vorhandenen Varietät der Betrachtungswinkel zu oberflächlich. Sauer aufstoßen muss vielmehr gar, dass sie im Kern ausschließlich als ein Hindernis für ihre Eltern erzählt werden, die es eigentlich ja gut mit ihnen meinen: Michelle Grabowski will als Helikopter-Mutter einer nun erwachsenen Tochter dafür sorgen, dass sie nicht in eine (wirtschaftliche und persönliche) Instabilität abgleitet, und ergreift dabei überzogene, ihre Tochter in ihrer persönlichen Freiheit einengende Maßnahmen. Manu Essmann hat ihr Studium abgebrochen und ist nach einem Drogenentzug in der Schweiz rückfällig geworden. Ihre Eltern reagieren darauf, indem sie sie in ihrem Haus einschließen. Und Laura Wagner wird von ihrem Vater jeglicher Kontakt zu Tarik untersagt, zu dem sie sich hingezogen fühlt, während sie ihre kranke Mutter zu pflegen hat und schulischem Druck ausgesetzt ist. Alle lehnen sich auf gegen die elterliche Bevormundung – und bei allen sind die Konsequenzen katastrophal.
Das ist eher moralisierend als psychologisch – und gleichzeitig die einzige von der Serie dargebotene Antwort auf die Kernfrage, die «Das Verschwinden» stellen will: Was ist mit den Mädchen passiert?
„Sie sind unglücklich“, antwortet an einer Stelle ein Polizist – einer der Wenigen, die in dieser Serie durch Umsicht und Augenmaß auffallen. Das Leitmotiv der Miniserie wird an anderer Stelle ebenso ambivalent wie allgemein von Michelle Grabowski formuliert: „Wir checken alle nicht, was die von uns wollen.“
Das Problem an dieser ausbaufähig präzisen Diagnose ist nicht, wie vage sie ist: Individuelle Lebensentwürfe sind im Normalfall selbstverständlich zu komplex, um durch monokausale Verschachtelungen erklärbar zu sein – insofern ist die Ratlosigkeit aller Beteiligten ob der fürchterlichen Entwicklungen in dieser Serie psychologisch verständlich und nah an der Realität. Es ist vielmehr der versteckte erhobene Zeigefinger, der sich aus den Verkettungen an Katastrophen ergibt, die alle ihren Quell darin haben, das stete Leben zu verlassen, das ihre Eltern ihnen vorzuleben versucht hatten.
© ARD Degeto/BR/WDR/NDR/23/5 Filmproduktion/Gerald von Foris,
Michelle Grabowski (Julia Jentsch) macht sich auf die Suche nach ihrer Tochter, die unter mysteriösen Umständen wie vom Erdboden verschluckt scheint.
Strukturell ist die Serie zweifelsohne sehr gut gelungen. Die Cliffhanger sind gut gesetzt, die Entwicklungen spannend, die Figurenzeichnungen in sich stimmig und folgerichtig, alles wie aus dem Dramaturgie-Lehrbuch. In Kombination mit dem sehr realitätsnahen Duktus, der sich auch in der Ästhetik und Kameraführung niederschlägt, mag sich ein stimmiges Bild einstellen. Doch es fehlt das Künstlerische, das Atmosphärische. Wahrscheinlich resultiert dieser Eindruck aus der unangenehmen Beobachtung, dass die drei jungen Frauen, deren Auflehnen und Ausbrechen der Stein des Anstoßes der ganzen Narrative sind, nicht wie junge Erwachsene, sondern wie törichte Kinder geführt werden, denen die Erzählhaltung zwar individuelles Verständnis, aber auch ein unbotmäßiges Maß an Schuld zuschreibt.
Einzige Ausnahme: die äußerst gelungene Zeichnung von Tarik Karaman, dem jungen Dealer und Drogenkurier, der eben nicht als abzulehnendes, abschreckendes Beispiel für verkommene junge Männer geführt wird, sondern im Grundsatz als positive Figur, als gutmütig und einfühlsam, als liebevoll und ehrenhaft, aber eben behaftet mit einem Fehler. Hinter ihm verbirgt sich eine psychologische Komplexität, die Laura, Janine und Manu nicht in dieser Tiefe zuteilwird, ein sinnvoll konkretisierter Konflikt um Identität, Selbstfindung und emotionale Nähe.
Auch an anderen Stellen gelingen «Das Verschwinden» viele starke, ergreifende, emotionale Momente. Doch über den wertkonservativen Gesamteindruck und die unangenehm moralisierenden Implikationen, die sich aus der Handlung und der Erzählhaltung dieser Serie ergeben, können sie nicht hinwegsehen lassen.
Das Erste zeigt «Das Verschwinden» in vier Doppelfolgen ab Sonntag, dem 22. Oktober um 21.45 Uhr.
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