In Europa wird immer umfangreicher und tiefer transnationaler diskutiert. Doch für eine europäische Öffentlichkeit fehlen normative Strukturen. Allen voran: ein europäischer Fernsehsender.
Als der französische Präsident Emmanuel Macron am 7. September in Athen eine Grundsatzrede über seine Vision für Europa hielt, haben das in Deutschland nur wenige im Detail mitbekommen. In Spanien, Schweden, Polen und Italien dürfte es ähnlich gewesen sein. Sucht man bei YouTube nach den Schlagwörtern „Macron“, „Speech“, „Athens“ finden sich allein Links, unter denen man sich das Video im besten Fall mit automatisch (und entsprechend miserabel) generierten französischen Untertiteln ansehen kann. Von Sprachfassungen auf Deutsch, Italienisch, Polnisch oder Bulgarisch ganz zu schweigen – es findet sich einzig, wenig verwunderlich, eine griechische Übersetzung.
Dabei hat die europäische Integration – wirtschaftlich und kulturell, aber nicht zuletzt politisch – längst ein Ausmaß erreicht, in dessen Rahmen die wirklich relevanten Fragestellungen auf sinnvolle Art nur noch transnational diskutiert werden können. Auf das Schicksal Deutschlands hatte die letzte Präsidentschaftswahl in Frankreich im Mai vermutlich einen größeren Einfluss als unsere Bundestagswahl im September. Die wiederum dürfte für das politische Geschehen in Griechenland bestimmender gewesen sein als es die nächsten griechischen Parlamentswahlen sein werden. Und doch findet sich auch im vermeintlich allesvernetzenden Internet nicht einmal eine englischsprachige Untertitelung des Kanzlerduells. Nicht-frankophonen Deutschen war es durch eine Simultanübersetzung von arte wenigstens möglich, die französischen Debatten mitzuverfolgen.
Oft wird beklagt, dass es an einer europäischen Öffentlichkeit fehle. Wenn es aber selbst eine Wahl im kleinen Österreich auf die Titelseiten der größten spanischen, britischen und französischen Medien schafft, wird dieses Bild zunehmend Lügen gestraft. Doch für den nächsten Schritt, der eine paneuropäische (politische) Diskussion ermöglichen würde, braucht es auch paneuropäische Strukturen. Daher ein Vorschlag: Wir brauchen einen europäischen Fernsehsender.
Sicher: In Zeiten von YouTube und Live-Streams klingt der Begriff Fernsehsender furchtbar muffig. Doch YouTube und ähnliche Angebote springen eben nicht in die Bresche, und wenn doch, dann bestenfalls auf Englisch. Für eine paneuropäische Diskussion reicht das nicht.
Es ist ja nicht so, als gäbe es gar keine Vorbilder oder Vorläufer. Aber keines von ihnen ist auch nur im Ansatz für sich genommen ausreichend: Die European Broadcasting Union (EBU), die alljährlich den «Eurovision Song Contest» (und noch eine Reihe anderer Veranstaltungen) ausrichtet und Miteigentümer von Euronews ist, ist eben kein Sender, sondern sieht seinen Zweck primär darin, als Nachrichten- und Videopool seinen Mitgliedssendern wechselseitig Bewegtbildmaterial zur Verfügung zu stellen. Angesichts von Mitgliedschaften algerischer, armenischer und ägyptischer Sender ist zudem der Begriff „European“ wesentlich weiter gefasst, als es für die Grundlage einer transnationalen europäischen Diskussion sinnvoll wäre: nämlich die Mitgliedsstaaten von EU und EFTA, eventuell noch erweitert um die Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan, in Osteuropa und Kleinasien. Auf die BBC können wir derweil ruhig schon verzichten. Britische Sonderwege und Befindlichkeiten werden ab dem März 2019 in Europa keine Rolle mehr spielen.
Ein weiteres mögliches Vorbild: arte, das aber als bilinguales deutsch-französisches Fernsehprojekt freilich zu klein für Europa ist, während TV 5 Monde als internationaler frankophoner Sender auch Kanada umfasst und eben nur in französischer Sprache (wenn auch mit lokalen Untertiteln) sendet. 3sat, das laut seinem Auftrag Programm für die gesamte DACH-Region macht, ist derweil selbstredend auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. Ohnehin: Sowohl arte als auch 3sat sind in erster Linie Kultursender – und aus der Geschichte von arte sind zudem stark divergierende Ansichten und lange Debatten zwischen den deutschen und französischen Teams bekannt,
wie breit der Begriff Kultur zu verstehen ist.
Europa braucht aber in erster Linie keinen gemeinsamen Kultursender, sondern gemeinsames politisches, vielleicht auch unterhaltendes Fernsehen, ausgestrahlt in allen Landessprachen der Europäischen Union und der Beitrittskandidaten – insgesamt wären das über zwei Dutzend. Niemand hat gesagt, es würde einfach werden.
Jetzt aber zur Kernfrage: Wie bestückt man einen solchen Fernsehsender? Ein Kernelement muss sicherlich die aktuelle politische Berichterstattung sein. Wenn im nächsten Jahr in Italien und Schweden neue Parlamente gewählt werden – hier müssten die Debatten und aktuellen Sendungen laufen, entweder simultanübersetzt oder mit ein bisschen Verzögerung, um den Übersetzerteams Zeit zu geben, Untertitel anzufertigen, und Beiträge herzustellen, die einem paneuropäischen Publikum eine Kontextualisierung der nationalen Themen ermöglichen.
Im Alltag wäre dies freilich ein kleiner Teil des politischen Programms. Ein weitaus größerer bestünde in der Möglichkeit, ein europäisches Publikum an nationalen Diskussionen teilhaben zu lassen, im einfachsten Weg wohl im Sinne einer untertitelten Ausstrahlung populärer und wichtiger nationaler Formate. Im Klartext: «Anne Will» und «Maybrit Illner» neben Laurent Ruquiers «On n’est pas couché» und Léa Salamés «Émission politique». Was dort besprochen wird, ist nicht nur jeweils für Frankreich oder Deutschland von Relevanz, sondern für ganz Europa. Wer es satirischer mag: die deutsche «Anstalt» neben Italiens «Striscia la notizia» und «De Wereld draait door» aus den Niederlanden.
Das schlägt bereits die Brücke ins Unterhaltungsgenre – denn auch das darf gerne paneuropäischer werden. «Wetten, dass..?» rühmte sich jahrelang damit, Europas erfolgreichste Fernsehshow zu sein, während die meisten Europäer sie überhaupt nicht sehen konnten. Dafür entgeht Deutschen, Schweizern und Österreichern seit vielen Jahren «Interesseklubben» aus Schweden.
Besonders interessant wären natürlich auch paneuropäische Projekte, seien sie politisch-informativ oder amüsant-unterhaltend. Das soll nicht den falschen Eindruck erwecken, es sei Zeit, die angestaubten «Spiele ohne Grenzen» oder den «Domino-Day» in der Form von damals wiederzubeleben. Aber wenn man eine paneuropäische Öffentlichkeit auf einem paneuropäischen Sender ansprechen will, sind paneuropäische Sendungen eine logische Ergänzung. In der Geschichte von arte haben sich in den Gründungsjahren schon hier große Unterschiede zwischen den beiden größten europäischen Ländern gezeigt: Während viele französische Fernsehmacher (vor und hinter der Kamera) ihre heimischen Haussender verließen, um sich voll und ganz ihrer Arbeit bei arte zu widmen, war die Anzahl der hauptsächlich durch ihre dortige Arbeit bekannten deutschen Gesichter überschaubar. Vielleicht erklärt auch das, warum arte in Frankreich schon immer wesentlich höhere Einschaltquoten einfährt als in Deutschland. Ungeachtet dessen reizt durchaus die Vorstellung einer supranationalen Symbiose: Frank Buschmann Seite an Seite mit Benjamin Castaldi in einer europäischen Unterhaltungsshow, Anne Will neben Laurent Ruquier oder Frank Plasberg neben Léa Salamé bei einem politischen oder gesellschaftlichen Talk.
Europa, es wird Zeit.
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel