Hinter der großartig erzählten und beachtlich inszenierten HBO-Serie steckt David Simon, der der amerikanischen Serie mit «The Wire» maßgeblich zum künstlerischen Aufstieg verholfen hat.
Cast & Crew
Produktion: Blown Deadline Productions, Rabbit Bandini Productions und HBO Entertainment
Schöpfer: David Simon und George Pelecanos
Darsteller: James Franco, Maggie Gyllenhaal, Gbenga Akinnagbe, Chris Bauer, Gary Carr, Dominique Fishback, Emily Meade u.v.m.
Executive Producer: David Simon, Richard Price, James Franco, Michelle MacLaren, George Pelecanos und Nina Kostroff NobleDavid Simon nimmt sich gerne Zeit zur Exposition. In der ersten Folge einer Serie geht es ihm weniger darum, einen konkreten Plot anzustoßen, als vielmehr die Stimmung zu etablieren, in der der oft opulente Vorrat an Haupt-und Nebenfiguren existiert. Dieser verhältnismäßig langsame, aber einnehmende Duktus ist bereits aus seiner vielgepriesenen Serie «The Wire» bekannt – und er setzt sich zumindest im Piloten seines neuesten HBO-Projekts «The Deuce» im selben Stil fort.
Der deutsche Titel eines Films aus dem Frühwerk von Martin Scorsese hat das New York der frühen 70er Jahre einmal als «Hexenkessel» umschrieben. Dieser Begriff würde auch die zahlreichen Handlungsstränge und Figurenkonstellationen und die ihnen innewohnende Dynamik von Simons «The Deuce» treffend umschreiben: Vincent Martino (James Franco) muss in zwei Jobs als unterbezahlter Barkeeper malochen, um seiner undankbaren Frau, die lieber mit zwielichtigen Männern die Nächte durchbumst und ihre Kinder in der Obhut ihrer versoffenen Mutter zurücklässt, ein Leben im Stil der unteren Mittelschicht zu ermöglichen. Ständig wird er von dubiosen Typen belagert, denen sein nicht minder dubioser Zwillingsbruder Frankie (ebenfalls von James Franco gespielt) Unmengen Geld schuldet.
Zuhälter C.C. (Gary Carr), ein afroamerikanischer
Sweet Talker wie er im Buche steht, rekrutiert seine Nutten derweil direkt am New Yorker Busbahnhof. Er hat ein Auge für augenscheinlich unscheinbare junge Frauen vom Land – und Bingo: Da quatscht er Lori (Emily Meade) an, die frisch aus Minnesota (woher sonst) eingetroffen ist und die er zum Frühstück in eine Spelunke einlädt, deren Klientel hauptsächlich aus C.C.s Zuhälterkollegen zu bestehen scheint, die bei ihren dort stattfinden Geschäftsessen ihre Nutten gefügig machen. Lori zeigt sich derweil schon von C.C.s Auto weniger beeindruckt, als er das antizipiert hatte – und fragt sich kurz, ob sie nicht versehentlich in Cleveland (ausgerechnet!) ausgestiegen sei statt an der kosmopolitischen Ostküste.
Candy (Maggie Gyllenhaal) heißt eigentlich Eileen. Aber Pseudonyme gehören bei ihr auf dem Strich genauso dazu wie aschgraue Lockenperücken und nuttige High Heels. Sie macht den Job schon länger, kennt alle Tricks, ist – je nach Sichtweise – so abgebrüht oder realistisch, dass sie ihren Beruf nonchalant mit dem eines Autohändlers vergleicht, und verzichtet als eine von wenigen New Yorker Prostituierten auf einen Zuhälter, der ihr das Gesindel vom Leib hält.
Simon führt im Piloten noch wesentlich mehr Figuren ein: eine junge Studentin, die es mit ihrem Sprachwissenschaftsprofessor treibt (dessen Vorlesung über Syllogismen und etymologische Fehlschlüsse auch als Metainterpretation der Serie verstanden werden kann). Ein weiteres Zuhälter-Sexarbeiterinnen-Gespann, das auf den ersten Blick gewaltsamer und rabiater wirkt als C.C.s Sweet-Talker-Geschäftsmodell – bis dieser Eindruck am Ende der ersten Folge vollständig konterkariert wird. Und liest man sich durch die Cast-Listen der nächsten sieben Episoden, wird sich das Personal noch deutlich erweitern.
Der Pilot bleibt derweil noch arm an einer Handlung, die die Geschichten der einzelnen Figuren übergreifen oder verbinden würde. Die Geschichte, die die Prämisse der Serie verspricht – dass die von James Franco gespielten Martino-Brüder zu Mafia-Managern werden und «The Deuce» sich wohl als Hauptplot und –thema mit der aufkeimenden Porno-Industrie im New York der frühen 70er Jahre beschäftigen will – ist auch mit viel gutem Willen im Piloten noch nicht so recht zu erahnen. David Simon lässt sich Zeit, seine Dramaturgie darf alles, nur nicht hetzen. Sein waches Auge betrachtet und analysiert eine Zeit, einen Ort, ein Milieu.
Während der lang andauernde Vorspann noch eine farbenfrohe, psychedelisch-urbane 70er-Jahre-Welt einfasst, ist die Serie selbst narrativ wie visuell deutlich rauer gehalten, unverfälscht und damit auch unbeschönigt. Das betrifft vor allem das Thema Sexualität, das schon konzeptuell in dieser Serie eine tragende Rolle einnimmt: Mit wenigen Ausnahmen fällt «The Deuce» ein vernichtendes Urteil auf den Spielort, die New Yorker 42ste Straße zwischen der siebten und achten Avenue. Die zahlreichen Sex-Szenen sind mit wenigen Ausnahmen geprägt von Einsamkeit, Isolation, Gewalt, einem Gefühl des Niedergangs und der Ausweglosigkeit. «The Deuce» überträgt die bekannten Themen des Großstadtromans: der Isolation und Vereinsamung, aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich in die höchstpersönliche Intimität.
David Simon und seinem Co-Creator George Pelecanos ist mit «The Deuce» vierzig Jahre später das gelungen, was Martin Scorsese in den 70er Jahren mit seinen New Yorker Kriminal- und Gangsterfilmen geleistet hat: Simons Ästhetik und seine narrative Beobachtungsgabe laden zu Vergleichen mit Scorseses «Hexenkessel», den «Mean Streets» von New York ein, der ebenso wie Simons «The Deuce» von gesellschaftlicher Verrohung erzählte, die mit den fortschrittlichen Idealen des modernen und postmodernen Stadtlebens aber nicht unbedingt in einem unauflöslichen Widerspruch steht. Schnell geht von den psychologisch hochkomplexen Charakteren in «The Deuce» eine so enorme Sogwirkung aus, dass dieses Milieu einen lange in seinem Bann halten wird. Wie damals bei «The Wire» – oder Scorseses frühen Gangster-Erzählungen.
Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
14.09.2017 12:06 Uhr 1
(Letzter Abschnitt, ganz am Anfang)