In der neuen Staffel der Anthologie-Krimiserie «Schuld» nach Ferdinand von Schirach nehmen sich die Macher erneut vier spannender Fälle des Anwalts Friedrich Kronberg an und blicken dabei in die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele.
Cast & Crew
- Buch: Niels Holle, André Georgi, Nina Grosse, Annika Tepelmann
- Regie: Hannu Salonen
- Darsteller: Moritz Bleibtreu, Laila Maria Witt, Jürgen Vogel, Marcus Mittermeier, Maria Dragus, Samuel Schneider, Iris Berben, Tom Wlaschiha, Ruby O'Fee, Josefine Preuß, Louis, Hofmann, Lars Eidinger, Jennifer Ullrich u.a.
- Kamera: Wolf Siegelmann
- Schnitt: Simone Sugg-Hofmann
- Musik: Richard Ruzicka
- Produktion: Oliver Berben, Jan Ehlert, Moovie GmbH
Wie schon in Staffel eins (oder zwei, wenn man das mit einem vollständig anderen Cast inszenierte Format «Verbrechen» als erste Season verstanden wissen möchte), besteht auch «Schuld II», basierend auf dem Bestseller von Ferdinand von Schirach, aus insgesamt vier Episoden, die allesamt eine in sich abgeschlossene Geschichte erzählen. Um einen Überblick über jede einzelne Folge zu geben und jede für sich zu bewerten, haben wir uns an dieser Stelle für vier kleine Fazits und ein Gesamtfazit der Serie entschlossen.
Folge 1: «Kinder»
Ein Mann (Marcus Mittermeier) wird wegen Kindesmissbrauchs angeklagt. Sein perfektes Kleinbürgeridyll wird durch das Verfahren systematisch vernichtet, seine Frau (Natalia Belitski) verlässt ihn, am Ende steht er mit nichts da. Er beteuert seine Unschuld, doch der Richter glaubt dem Mädchen. Jahre später wird der Mann aus der Haft entlassen und steht vor den Scherben seines Lebens. Als er zufällig der jungen Frau (Maria Dragus) begegnet, die ihn als Kind des Missbrauchs beschuldigt hat, erwacht ihn ihm der Wunsch nach Rache. Entschlossen, sie zu töten, folgt er ihr. Aber er bringt es nicht übers Herz, seinen Plan auszuführen und sucht stattdessen Hilfe bei Kronberg (Moritz Bleibtreu). Der stellt eigene Nachforschungen an und bringt Erstaunliches zu Tage.
Unser erstes Urteil
Wie es der Titel von Roman und Serie bereits ankündigt, geht es in «Schuld» in erster Linie um die Schuldfrage und was sie mit dem Menschen macht, der sich mit ihr auseinandersetzen muss. So makaber es auch klingen mag, so nahe liegend ist ein Fall von (eventuellem) Kindesmissbrauch, um den Kern der Serie zu treffen. Wie schon in vielen anderen Filmen und Serien beleuchtet (man denke nur an das überragende, oscarnominierte Drama «Die Jagd») betrachtet Regisseur Hannu Salonen («Die Hebamme») hier das Zusammenbrechen eines Lebens, das nur anhand von Indizien, nicht aber von Beweisen direkt von sämtlichen Außenstehenden als einzige gerechte Strafe empfunden wird. Aufgehangen an der dramatischen Performance von Marcus Mittermeier («Die Ungerhorsame»), den wir von vornherein als uneinschätzbaren Faktor wahrnehmen - immerhin beginnt «Kinder» mit einer Sequenz, in welcher wir gezeigt bekommen, dass seine Figur bereit ist, über Leichen zu gehen -, entspinnt sich ein emotional forderndes Spiel mit Vorurteilen und Moral.
Seine Figur wäre augenscheinlich der perfekte Täter. Und weshalb sollten wir und der Richter einem kleinen Kind nicht glauben? Urteilen wir vorschnell? Fallen wir hier unserer Bequemlichkeit zum Opfer? Salonen und Drehbuchautor Niels Holle («Dr. Klein») drehen hier zwar noch nicht ganz auf und bleiben im Vergleich zu einem «Die Jagd» noch ein wenig zahm, doch als Einstieg in die neue Season erweist sich «Kinder» besonders aufgrund der starken Besetzung als intensiv und vielschichtig.
Wir vergeben: 75/100 Prozent
Folge 2: Anatomie
Eine Sekunde der Unaufmerksamkeit hat fatale Folgen: Ein Autofahrer (Martin Brambach) lässt sich ablenken und übersieht einen jungen Mann (Samuel Schneider), der achtlos auf die Straße läuft. Das Opfer stirbt noch am Unfallort, gegen den Fahrer wird ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet. Der Fall scheint zunächst klar, doch dann machen die Ermittler einen grausamen Fund im Haus des Unfallopfers. Alles deutet darauf hin, dass der Getötete ein Sadist von besonderem Ausmaß war, der unmittelbar davorstand, ein grausames Verbrechen zu begehen – wenn der Unfall ihn nicht das Leben gekostet hätte.
Unser zweites Urteil
Die eben bereits tangierte Schuldfrage findet in der zweiten (und insgesamt besten) Folge von «Schuld II» ihren perfiden Höhepunkt, wenn man als Zuschauer dazu gezwungen wird, zwei verschiedene Arten von Unrecht gegenseitig abzuwägen. Da ist auf der einen Seite das selbst verschuldete Vergehen einer fahrlässigen Tötung, auf der anderen Seite die sukzessive Erkenntnis, dass das Opfer so unschuldig gar nicht war. «Anatomie» bedient sich dabei eigentlich einer ziemlich ausgelutschten Prämisse vom psychisch labilen Wahnsinnigen, der erst Tiere tötet, um sie anschließend zu obduzieren und dem kleine Vierbeiner später nicht mehr genug sind. Doch «Schuld» geht an dieser Stelle weiter und lässt nicht bloß Hund, Katze und Federvieh sezieren, sondern vor den Augen der Zuschauer die handelnde Person. «Anatomie» fordert das Publikum heraus, denn das Skript von Andre Georgi ist betont offensichtlich: Wir glauben, die Antwort auf die Schuldfrage zu kennen und wissen genau deshalb überhaupt nichts. Wie man es von den bisherigen Staffeln der Von-Schirach-Formate gewohnt ist, überzeugen auch in «Anatomie» einmal mehr die Darsteller; mit Tom Wlaschiha («Berlin Falling»), Iris Berben («High Society») und Samuel Schneider («Exit Marrakech») als faszinierend feingliederig gezeichneter potenzieller Frauenmörder hat diese Episode einige in petto.
Wir vergeben: 90/100 Prozent
Folge 3: Das Cello
Theresa Tackler (Josefine Preuß) ist in Tränen aufgelöst, als sie Kronberg zu Hilfe ruft. Ihr Bruder Leonhard (Louis Hofmann) liegt tot in ihrer Badewanne. Es ist der erschütternde Schlusspunkt einer Familientragödie, die ihren Anfang bereits in Teresas und Leonhards Kindheit nimmt. Die Geschwister, in deren gutgestelltem Elternhaus emotionale Kälte herrscht, verbindet eine symbiotische Beziehung. Nach ihrem Schulabschluss gehen die beiden auf Reisen und entdecken gemeinsam eine nie gekannte Lebensfreude. Ihre Unbeschwertheit findet ein jähes Ende, als Leonhard bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt wird. Zurück in Deutschland übernimmt Theresa allein die Pflege ihres nun geistig und körperlich behinderten Bruders. Aber Leonhards Zustand verschlechtert sich zusehends. Als alle Hoffnung auf eine Heilung verloren ist, tötet Theresa ihren Bruder und ruft Kronberg an. Sie wird wegen Mordes angeklagt.
Unser drittes Urteil
Die dritte Episode «Das Cello» hat nicht die Klarheit von «Kinder» und nicht die moralische Komplexität von «Anatomie», aber es ist eindeutig die emotionalste und tiefsinnigste Folge des zweiten «Schuld»-Kosmos, denn Hannu Salonen lässt innerhalb einer dreiviertel Stunde eine erschütternde Familientragödie vor den Augen der Zuschauer abspielen. Dabei ist auch hier die Ausgangslage früh klar (und anders als im Falle von Folge eines und zwei ist hier auch nicht mit einer abschließenden, großen Erkenntnis zu rechnen - stattdessen geht es hier einzig und allein um die Hintergründe einer Tat und darum, ob der Zweck die Mittel heiligt oder umgekehrt): Eine junge Frau hat ihren Bruder ermordet, der seit einem schweren Unfall sämtlichen Lebensmut verloren hat. In Rückblicken schildert Niels Holle eine liebevolle Bruder-Schwester-Beziehung, die immer mehr Risse bekommt, bis sich eine von beiden Parteien nicht mehr zu helfen weiß. Notwehr? Beihilfe zum Selbstmord? Heimtücke? In ruhigen, unaufgeregten und doch gewohnt eleganten Bildern nagt «Das Cello» subtil an den Nerven des Publikums und endet doch überraschend unbefriedigend - doch genau das war das Ziel. Ein solches Geschehen offenbart schließlich nur selten einen Gewinner.
Wir vergeben: 85/100 Prozent
Episode 4: Familie
Trotz seiner zerrütteten Kindheit führt der erfolgreiche Geschäftsmann Waller (Jürgen Vogel) mittlerweile ein bodenständiges und zurückgezogenes Leben. Ganz anders sein unverbesserlicher Halbbruder Meinering (Lars Eidinger): Nachdem er bereits eine beachtliche Knastlaufbahn in Deutschland hinter sich hat, sitzt er nun wegen Drogenschmuggels in Brasilien im Gefängnis. Meinering, der jüngere der beiden, weiß nicht, dass er einen Bruder hat. Waller möchte, dass das so bleibt – aber er fühlt sich für seinen Halbbruder verantwortlich und beauftragt Kronberg mit dem Fall. Durch Kronbergs Einsatz kommt Meinering in dem brasilianischen Gerichtsverfahren glimpflich davon und darf zurück nach Deutschland, wo er von vorne anfangen und ein Leben in geordneten Bahnen führen will. Doch sein Hang zur Gewalt und eine kriminelle Vergangenheit, die über Generationen in die Geschichte der Familie zurückreicht, lassen Meinering nicht so einfach los.
Unser viertes Urteil
«Familie» ist von allen Episoden diejenige, die uns am ratlosesten hat zurück bleiben lassen und die trotzdem überraschend lang im Gedächtnis geblieben ist. Von allen Folgen ist diese hier jene, die sich am deutlichsten über ihre Stars definiert - kein Wunder, wenn man einen Exzentriker wie Lars Eidinger («Terror - Ihr Urteil») im Cast hat. Dieser spielt einen abgehobenen, leicht entflammbaren und es mit dem Gesetz nicht ganz so genau nehmenden Drogenschmuggler, für den Moritz Bleibtreu sogar ins ferne Brasilien fliegt, um ihn auf Anraten des (im Geheimen agierenden) Bruders aus der Misere zu holen. In «Familie» geht es jedoch weniger um den Kriminalfall, sondern mehr um die Frage, bis wann eine Familie noch zusammenhalten muss, ob Blut immer dicker als Wasser ist und bis wann man für seine Angehörigen Verantwortung aufbringen muss. «Familie» mag es an der typischen Crime-Spannung fehlen, denn der Kriminalfall als solches ist hier weitestgehend unbedeutend. Viel interessanter ist der Kontrast der beiden Brüder: Der eine ein erfolgreicher Unternehmer, der andere permanent auf der schiefen Bahn. Beide liefern sich ein Duell aus der Ferne, denn Schauspieler Jürgen Vogel («Stereo») und Lars Eidinger sind nie zusammen zu sehen. Stattdessen fungiert Moritz Bleibtreus Kronberg als Vermittler und gibt der Geschichte eine allgemein gültige Tragweite, die über das Schicksal dieser einen Familie hinausgeht. Das Ende ernüchtert und betrübt zugleich.
Wir vergeben: 80/100 Prozent
Fazit
«Schuld II» - natürlich auch einmal mehr mit einem überragenden, instinktiv agierenden Moritz Bleibtreu besetzt - knüpft genau dort an, wo «Schuld» und «Verbrechen» aufgehört haben. Einmal mehr werden vier spannende Kriminalgeschichten nacherzählt, in denen sich menschliche Schicksale und nüchterne Juristerei auf eindrucksvolle Weise zu fesselnden, spannenden und hochdramatischen Beispielen dafür entwickeln, was passiert, wenn wir uns verlieren und uns nur noch
eine dünne Schicht aus Eis vom Chaos trennt
«Schuld II» ist ab dem 15. September immer Freitags um 21:15 Uhr im ZDF zu sehen.
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13.09.2017 10:24 Uhr 1