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Sülters Sendepause: Das ESC-Drama - Dieter-Ralph Raab to the rescue!

Germany, zero points. Seit Jahren röchelt sich der deutsche Beitrag beim ESC nur noch unter dem Radar der europäischen Musikgemeinde ins Ziel. Kaum Punkte, letzte Plätze. Sieben Jahre nach Lena ist man in der Talsohle zuhause. Doch was ist hier eigentlich passiert? Und wer kann uns retten?

Es ist schon verflixt: Da hat man immerhin zwei Siege auf dem Briefkopf, holte insgesamt die fünftmeisten Punkte, gehört zu den einflussreichsten Ländern im Wettbewerb und begeistert mit Vorentscheid und Finale jedes Jahr Millionen von Fernsehzuschauern – und doch herrscht bereits wieder seit fünf Jahren Dürre und Frust. Cascada, Elaiza, Ann-Sophie, Jamie Lee & Levina holten zwei letzte, einen vorletzten, einen sechstletzten und einen neuntletzten Platz. Die schlechtesten der drei Ergebnisse fanden sich zudem in den vergangenen drei Jahren. The trend is not your friend, Germany.

Um das Ende vorwegzunehmen: Ein Mann, der bereits seit über einem Jahr im selbstgewählten TV-Ruhestand lebt, ist durch diesen Verlauf aktuell wieder in aller Munde. Stefan Raab steht sinnbildlich für die letzten Erfolge beim ESC und ist somit auch eng mit dem Niedergang der jüngeren Zeit verbunden. Ohne aber natürlich höchstselbst etwas dafür zu können. Doch wie kam es überhaupt zum aktuellen Dilemma? Kleine Zeitreise gefällig?

Früher


Von 1956 bis 1969 war man beim ESC zwar mittendrin, aber nie ganz vorne dabei. Deutschland lief einfach mit und holte brave vierte Plätze (Bonne nuit, ma chérie & Telefon, Telefon). Die erste starke Frauenpower-Phase gab es dann zu Beginn der Siebziger. Katja Ebstein (Wunder gibt es immer wieder, Diese Welt) und Mary Roos (Nur die Liebe lässt uns leben) ergatterten drei dritte Plätze in Serie. Danach verzog man sich für den Rest des Jahrzehnts aber wieder ins Mittelmaß. Ab 1979 jedoch blühte Deutschland unter der Feder von Ralph Siegel erneut auf. Dschingis Khan mit dem gleichnamigen Titel ergatterten einen erneuten vierten Platz und Katja Ebstein (Theater) sowie Lena Valeitis (Johnny Blue) wurden Zweite ehe eine gewisse Nicole von Ein bisschen Frieden sang und Europa verzauberte. Deutschland hatte 1982 tatsächlich gewonnen. Es folgte Genie auf Wahnsinn – eine Streuung zwischen zweiten (Wind mit Für alle & Lass die Sonne in dein Herz) und hinteren Plätzen. Von 1988 bis 1993 jedoch krebste man dann endgültig nur noch bös herum, bis erneut Ralph Siegel mit Mekados Stimmungsnummer Wir geben ne Party immerhin einen dritten Platz holte.

Raabzeit


1998 begann dann der Stern eines anderen ESC-Helden aufzugehen: Stefan Raab schickte Guildo Horn ins Rennen (Guildo hat euch lieb) und zeigte, dass Deutschland auch lustig und durchgedreht sein kann: Ein immerhin siebter Platz galt hier als Achtungserfolg. Siegel konterte 1999 mit einem dritten Platz von Sürpriz (Reise nach Jerusalem). 2000 dann wagte sich Raab sogar selber auf die Bühne (Wadde hadde dudde da?) und wurde mit seiner ausgefallen-mutigen Nummer sensationell Fünfter. Da Konkurrent Siegel darauf zweimal krachend scheiterte, durfte Raab erneut einen Kandidaten schicken: Max Mutzke wurde immerhin solider Achter. Noch reichte es zwar nicht für einen großen Wurf, doch Raab schaffte immerhin konstant gute Ergebnisse und etablierte Deutschland im vorderen Mittelfeld.

Doch lernte man leider nicht daraus und vertraute lieber wieder auf den bewährten Auswahlmodus oder schickte rätselhafte Direktkandidaten. Die Quittung: Fünf schlimme Jahre. Mit der gemeinsamen Castingshow «Unser Lied für Oslo» (eine Kooperation zwischen ProSieben und dem Ersten) gelang dann jedoch unter erneuter Beteiligung von Stefan Raab die Sensation: Lena gewann 2010 mit ihrem Satellite den Wettbewerb und löste eine Euphorie aus, die der ESC in Deutschland so noch nicht erlebt hatte. Ihr (nur) zehnter Platz im Folgejahr war da fast egal. Doch hatte Raab noch einen Pfeil im Köcher: 2012 holte Roman Lob den achten Platz.

Steuerlos


Hier endete die fruchtbare Zusammenarbeit von ProSieben und Erstem. Hier zog Stefan Raab sich aus dem ESC-Geschehen zurück. Was folgte war die zweite ganz große Horrorphase deutscher ESC-Teilnahmen: 21, 18, 27, 26, 25. Dabei wurde doch alles versucht: Etablierte Künstler, frische Gesichter. Bekannte Melodien, moderne Rhythmen. Erfolgreiche Schreiber, neue Talente.

Die Fehlersuche im System ESC hält somit an – doch fraglich ist, ob sie zu einem brauchbaren Ergebnis führen wird. Der NDR als federführende Institution maßt sich jährlich an, Vorauswahlen zu treffen, die dem deutschen Geschmack entsprechen und international konkurrenzfähig sein sollen. Doch wählt man als Zuschauer beim Vorentscheid hier leider in letzter Konsequenz nur the best of the worst. Mit Raab hatte man hingegen einen Musik-, TV- und Medienfachmann am Puls der Zeit. Beim NDR sitzen offenkundig nur selbsternannte Fachleute, die ihrem Gefühl wenn es drauf ankommt nicht trauen können.

Chance


Dabei könnte es doch so einfach sein, möchte man meinen. Warum nicht zumindest mal einen wirklichen deutschen Topstar zwangsverpflichten? Nun gut – der letzte Versuch, mit Xavier Naidoo ein Schwergewicht als Hoffnungsträger zu entsenden, scheiterte - aus anderen Gründen - krachend. Bands wie Die Ärzte, Rammstein, Die toten Hosen, Pur oder Künstler wie Nena, Grönemeyer, Westernhagen oder der hippe Nachwuchs wie Tim Bendzko werden sich zudem kaum erweichen lassen.

Ergo bleibt nur die Hoffnung auf ein Mastermind hinter der Produktion. Raab mag nicht mehr. Siegel kann nicht mehr. Wer bleibt? Dieter Bohlen hat sowohl in Deutschland als auch im Ausland veritable Erfolge vorzuweisen. Doch könnte er einen ESC-Hit schreiben? Unwahrscheinlich. Bohlen steht musikalisch in Deutschland wie kaum ein Zweiter für das Image des ewig Gestrigen, der auf der Welle weiterreitet, die kaum mehr wahr ist, aber irgendwie immer noch funktioniert. Das mag tauglich für seine Landsleute sein, im internationalen Vergleich bedeckt sein Schaffen jedoch längst eine Patina der Vergänglichkeit.

Würde er hingegeben gemeinsam mit Thomas Anders einen großangelegten Comeback-Song mit Modern Talking erschaffen, der nebst einer schmissigen Hook aufwändige Bühneneffekte, Hupfdohlen und Showeinlagen kombiniert und zu einer saftigen Las-Vegas-Revue aufbläst – man hätte vermutlich eine nicht allzu kleine Chance auf ein Wunder. Doch liegt die Wahrscheinlichkeit hierfür im kaum messbaren Bereich.

Conclusio


Steckbrief

Björn Sülter ist bei Quotenmeter seit 2015 zuständig für Rezensionen, Interviews & Schwerpunkte. Zudem lieferte er die Kolumne Sülters Sendepause und schrieb für Die Experten und Der Sportcheck.
Der Autor, Journalist, Podcaster, Moderator und Hörbuchsprecher ist Fachmann in Sachen Star Trek und schreibt seit 25 Jahren über das langlebige Franchise. Für sein Buch Es lebe Star Trek gewann er 2019 den Deutschen Phantastik Preis.
Er ist Headwriter & Experte bei SYFY sowie freier Mitarbeiter bei Serienjunkies, der GEEK! und dem FedCon Insider und Chefredakteur des Printmagazins TV-Klassiker und des Corona Magazine.
Seine Homepage erreicht ihr hier, seine Veröffentlichungen als Autor auf seiner Autorenseite.
Es bleibt nur die Hoffnung auf ein Umdenken beim NDR und das Auftauchen eines neuen Messias. Wer das sein kann oder woher er kommen soll ist im Moment unklarer denn je. Man kann für die Fans des ESC hierzulande nur hoffen, dass der NDR zumindest bereit ist, das eigene Handeln zu reflektieren und jegliches Ego über Bord schmeisst. Ansonsten muss man sich halt mit Katja Ebstein behelfen: Wunder gibt es immer wieder.

Der Sülter hat für heute Sendepause, ihr aber bitte nicht – Wie sind eure Erfahrungen? Was denkt ihr über die letzten ESC-Künstler? Woran liegt das aktuell miese Abschneiden? Was hat Raab anders gemacht? Wer kann uns retten? Denkt darüber nach und sprecht mit anderen drüber. Gerne auch in den Kommentaren zu dieser Kolumne. Ich freue mich drauf.

«Sülters Sendepause» kehrt in vierzehn Tagen zurück.

Die Kolumne «Sülters Sendepause» erscheint in der Regel alle 14 Tage Samstags bei Quotenmeter.de und behandelt einen bunten Themenmix aus TV, Film & Medienlandschaft.

Für Anmerkungen, Themenwünsche oder -vorschläge benutzt bitte die Kommentarfunktion (siehe unten) oder wendet euch direkt per Email an bjoern.suelter@quotenmeter.de.
20.05.2017 10:31 Uhr Kurz-URL: qmde.de/93200
Björn Sülter

super
schade

87 %
13 %

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Tags

Sülters Sendepause Unser Lied für Oslo

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Es gibt 7 Kommentare zum Artikel
P-Joker
20.05.2017 15:00 Uhr 5
Gut, dieses Jahr ging es ja nicht anders.

Aber ein bisschen muss man auch dem deutschen TV-Publikum die Mitschuld geben!



Beispiel 2013:

Da hatte das Publikum mal die Wahl zwischen zwei namhaften deutschen Bands (Santiano und Unheilig),

die beide auch unbedingt dabei sein wollten ... aber was wird gewählt?

Eine vollkommen unbekannte Mädchenband mit englischem Allerwelts-Austausch-Pop!
Esel
20.05.2017 16:49 Uhr 6
Elaiza fand ich gar nicht sooooo austauschbar. Und es hat allemal besser abgeschnitten als alles andere in den letzten zehn Jahren, was nicht von Raab kam.
Aries
21.05.2017 09:53 Uhr 7
Es gibt schlicht mehrere große Probleme. Probleme, die Raab nicht hatte oder gekonnt umschiffte:



1. Songauswahl

Die meisten Songs der vergangenen Jahre sind einfach schlecht. Da nimmt man eine 08/15 Popnummer von einem oftmals schwedischen Komponisten und meint, dieses an Schlager erinnernde Etwas könnte was reißen. Nur, dass Schlager außerhalb Deutschlands kaum jemanden interessiert. Da nimmt man Lieder, die komischerweise oft "so ähnlich wie" (z.b. der Titanium-Gitarrenhook in diesem Jahr) klingen, was schon von vorne herein zum Scheitern verurteilt ist.

Hier müsste man mal einen richtigen Kracher schreiben. Einen, der dem Künstler Stimmgewalt abverlangt (und ganz ehrlich, Levinas Stimme war nun wahrlich nicht herausragend).



2. Sänger

Man nimmt oft so unbekannte Leute, mal etwas mehr bekannt, klatscht einen Song für sie hin und lässt diesen dann proben. Wenn dann was bekannteres (Unheilig, Santiano) oder interessanteres kommt, wirds vom deutschen Publikum nicht gewählt, aber dazu gleich mehr. Die Vorauswahl vom NDR ist schon fraglich. Die letzten "ohos" war 2013 die Unheilig / Santiano Geschichte, der selten dumme Andreas Kümmert, der letztes Jahr durchaus in die Top10 gekommen wäre, und zuvor LaBrassBanda, weil sie an Raab-sche Verrücktheit erinnerten.



3. Marketing

Die allergrößte Schwachstelle im Post-Raab Zeitalter ist aber das internationale Marketing. Raab hat es, wie auch immer, verstanden seine Acts international gut aufzustellen. Dafür hat er selbst gesorgt, indem er bei solchen Auftritten oft im Hintergrund agierte oder mitmachte. Selbst im Inland hat man kaum etwas von Levina zwischen Vorentscheid und Finale gehört.



4. Der deutsche Musikgeschmack

In Zeiten, in denen Helene Fischer 9000 Wochen in den Albumcharts steht (obwohl, die könnte stimmlich beim ESC was reißen!), ist klar, dass das deutsche ARD Publikum dann eher auf Standard Popnummer tippt, als etwas ausgefalleneres. Außer, man hat in Ausnahmefällen einen sagenhaften Sänger (Kümmert), der alle anderen an die Wand singt.

Raab hat es irgendwie geschafft mit seinen Songauswahlen eben nicht in den deutschen Klischee-Geschmack zu greifen und hat vermehrt schmissige und IMO manchmal frisch, manchmal anspruchsvoll wirkende Lieder in petto.



5. Bühnenauftritt

Was soll denn bitte eine Levina auf der ESC Bühne reißen, wenn die Videowand nur für einen einzigen, billigst gemachten Effekt in grau verwendet wird? Hier sollten die Regisseure auch mal Mut beweisen und mit der Wand und der Technik spielen. Effekte und Clips sekundengenau einstudieren, mal nen richtigen Kracher mit 3D Effekt auf die Wand klatschen... Sowas.

Ein 3 Minuten Video, das eine Geschichte erzählt, mit dem der Künstler interagiert und nicht nur den (grauen) Gesang untermalt.
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