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«ESC 2017»: Es geht ja auch noch um Musik

Alles zum diesjährigen «Eurovision Song Contest»: Von den politischen Streitigkeiten zwischen Russland und der Ukraine, den Favoriten auf den Gesamtsieg, den skurrilen Acts des Abends und den Chancen für den deutschen Beitrag von Levina.

Musik ist in diesem Jahr offenbar nur Nebensache. Und das beim größten musikalischen Wettbewerb der Welt. Schon seit dem «Eurovision Song Contest» in Aserbaidschan 2012 hat das Politische den Wettkampf nicht mehr derart überlagert – aber wen überrascht das wirklich? Nachdem im vergangenen Jahr Jamala mit ihrem Siegersong „1944“, der von der Verschleppung der Krimtataren im Zweiten Weltkrieg erzählt, für die ein oder andere Diskussion gesorgt hat, überschattet der politische Streit zwischen Russland und der Ukraine den 62. «Eurovision Song Contest» in Kiew.

Was war passiert? In diesem Jahr wollte Russland Julia Samoilowa ins Rennen um die musikalische Krone Europas schicken, doch der ukrainische Geheimdienst SBU verweigerte der Sängerin im Rollstuhl die Einreiße – für ganze drei Jahre. Der Grund: 2015 trat sie auf der annektierten Krim auf – die Einreise über russisches Territorium ist aus Sicht Kiews allerdings illegal. Dem Grundsatz, dass der «Eurovision Song Contest» frei von Politik sein solle, wird seit jeher nicht viel Beachtung geschenkt, doch in diesem Jahr dominierte das Politische im Vorfeld zum Wettbewerb. Der European Broadcasting Union (EBU) war viel daran gelegen, diesen Konflikt beizulegen und einen Kompromiss zu finden – sie schlug sogar vor, Julia Samoilowa per Satellit in das International Exhibition Centre in Kiew zu schalten. Nun stehen beide Teilnehmer vor empfindlichen Strafen, Russland hatte im Vorfeld des Wettbewerbs an verschiedenen Pflichtsitzungen nicht teilgenommen. Zwar fällt die Entscheidung über etwaige Sanktionen erst im Juni, doch laut des Vorsitzenden der ESC-Reference Group der EBU Frank-Dieter Freiling liegen alle Optionen auf dem Tisch – sogar eine Sperre von bis zu drei Jahren ist denkbar.

Topfavorit mit Gorilla


In dieser angespannten Situation wirkt auch der ukrainische Beitrag in diesem Jahr wenig deeskalierend – beim nationalen Vorentscheid explodierten beim Frontmann der Band O.Torvald noch zwei Kapseln mit Kunstblut auf der Brust. Allerdings ist deren Chance auf die Titelverteidigung laut Buchmachern eher gering. Schon lange gilt der Italiener Francesco Gabbani als Topfavorit auf den Gesamtsieg. Mit der gutgelaunten Pop-Nummer „Occidentali's Karma“ und einem Mann im Gorillakostüm auf der Bühne überzeugte er schon beim italienischen Vorentscheid, dem Sanremo-Festival, und den Proben im Vorfeld des Wettbewerbs.

Allerdings muss man dem Wettbewerb attestieren, dass die musikalische Bandbreite ist in diesem Jahr kleiner als noch 2016 ist – und selbst im erweiterten Favoritenkreis schwächelt der ein oder andere Act immer wieder. Seien es die Schweden, deren Teilnehmer Robin Bengtsson im Halbfinale eine Laufband-Choreo mit dünner Stimme hinlegte. Oder die Belgierin Blanche, die zwar auf dem Papier und im Musikvideo eine tolle Elektro-Ballade im petto hat, ihre Proben gesanglich allerdings einigermaßen katastrophal ausfielen. Im Halbfinale legte sie stimmlich etwas zu, wurde aber vor allem vom Publikum als einer der Fanlieblinge durch ihren Auftritt getragen – doch für eine Chance auf den Sieg muss sie noch eine Schippe drauflegen.

„Der rotierende Helikopterzopf“


Die meistgeklickten «ESC 2017»-Beiträge auf YouTube

  1. Francesco Gabbani – Occidentali’s Karma (Italien)
  2. Robin Bengtsson – I Can’t Go On (Schweden)
  3. Blanche – City Lights (Belgien)
  4. Alma – Requiem (Frankreich)
  5. Kristian Kostov – Beautiful Mess (Bulgarien)
Viel befreiter wirkte dahingegen der portugiesische Sänger Salvador Sobral, der mit seiner ruhigen und authentischen Ballade „Amar Pelos Dois“ für viele wohl der größte Konkurrent für Francesco Gabbani ist. Den vielleicht spannendsten Beitrag des Abends, Artsvik mit „Fly With Me“, liefert mal wieder Armenien, die bereits im vergangenen Jahr mit einer der modernsten Nummern antraten. Aber auch Bulgarien und das Vereinigte Königreich sollte man in diesem Jahr auf der Rechnung haben.

Freunde der skurrilen Darbietungen müssen sich auch 2017 erneut dem Trend der zunehmenden Professionalisierung des Wettbewerbs stellen. Das typische Eurovision-Grauen weicht zunehmend zugunsten mittelprächtiger Popnummern und Balladen – nur in den Halbfinals findet sich noch der ein oder andere eigenartige Beitrag. So zum Beispiel der ausgeschiedene Slavko Kalezić aus Montenegro, den Peter Urban nur als „rotierenden Helikopterzopf“ bezeichnete. An die Skurrilität einer Verka Serdeuchka kommen die Acts in diesem Jahr nicht mehr heran, doch ab und an bekommt der Zuschauer immer noch kuriose Häppchen wie Pferdeköpfe (Aserbaidschan), den „Epic Sax Guy“ aus Moldawien oder die Kombination aus Rap und Jodeln aus Rumänien serviert.

Und Deutschland?


Dem deutschen Beitrag „Perfect Life“ von Levina wird mal wieder kaum eine Chance auf eine Top-Platzierung zugerechnet. Doch zumindest unter den internationalen Journalisten vor Ort ist man zumindest mehrheitlich der Meinung, dass Isabella Levina Lueen nicht die Tradition der vergangenen beiden Jahre fortsetzt und den letzten Platz belegt. Eine Mittelfeld-Platzierung dürfte für die Gewinnerin des deutschen Vorentscheids durchaus realistisch sein.

Apropos Deutschland: Auch in diesem Jahr wird der Sieger des «Eurovision Song Contest» wieder zu einer Hälfte durch das Publikumsvoting und zur anderen Hälfte durch nationale Jurys entschieden. Für Deutschland stimmen in diesem Jahr Nicole, «ESC»-Siegerin aus dem Jahr 1982, Joy Denalane, Adel Tawil, Wincent Weiss und Andreas Herbig ab. Die Punkte aus Deutschland verkündet wie schon im vergangenen Jahr Barbara Schöneberger, die auch den traditionellen Countdown vor dem Wettbewerb und die Party nach dem Finale moderieren wird. Dabei findet auch das umstrittene Voting-System erneut seine Anwendung: zuerst gibt es Live-Schalten in alle 42 Teilnehmerländer, bei denen die Jury-Punkte verlesen werden. Das Publikumsergebnis wird im Anschluss wieder als Block in der Halle verkündet, um die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten.
Wie wird Deutschland mit Levina und "Perfect Life" in diesem Jahr abschneiden?
Mitfavoritin
0,3%
Top 10 ist möglich
8,8%
Solides Mittelfeld
36,7%
Wieder am Ende des Tableaus
54,1%

Ralph Siegels Silberne Hochzeit


Zum Schluss bleibt noch zu erwähnen, dass es auch in diesem Jahr einige Wiederholungstäter beim «Eurovision Song Contest» geben wird. Die Teilnehmer aus Estland, Israel, Moldawien, San Marino, Serbien und Slowenien haben bereits in der ein oder anderen Form am Wettbewerb teilgenommen. Darüber hinaus feiert Ralph Siegel seine Silberne Hochzeit mit dem «ESC»: zum 25. Mal nimmt er in diesem Jahr teil. Sein Schützling Valentina Monetta aus San Marino, die zum vierten Mal am Wettbewerb teilnimmt, schied allerdings wenig überraschend im Halbfinale aus.

Letztlich sollte man in den diesjährigen «ESC» keine allzu großen Hoffnungen stecken. Die Show an sich wird nicht an den Wettbewerb aus Stockholm im vergangenen Jahr herankommen, auch wenn die Schweden mit der besten Inszenierung seit vielen Jahren die Latte ziemlich hoch gelegt haben. Bereits in den beiden Halbfinals wurde klar, dass man „nur“ eine solide Show mit einer etwas steifen Moderation geliefert bekommen wird. „Celebrate Diversity“ (Vielfalt feiern) ist das Motto, das die drei männlichen Moderatoren nur bedingt verkörpern – erstmals in der Geschichte des Wettbewerbs wird keine Frau durch den Abend führen. Und egal wer am Ende die Trophäe mit nach Hause nehmen wird: Für das kommende Jahr würde man sich weniger Politik und mehr Musik wünschen. Und vielleicht den ein oder anderen Zopfschwinger im Finale.
12.05.2017 11:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/93064
Robert Meyer

super
schade

92 %
8 %

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Tags

ESC Eurovision Song Contest

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