Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Im ersten Teenie-Drama von Netflix verschwimmen Fiktion und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart. Irgendwann weiß der Zuschauer selbst nicht mehr, was und wem er glauben soll: der toten Hannah oder ihren noch lebenden (Ex-)Freunden?
Cast und Crew «Tote Mädchen lügen nicht»
- basiert auf der Buchvorlage von Jay Asher
- Script: Brian Yorkey
- Darsteller: Dylan Minnette, Katherine Langford, Brandon Flynn, Christian Navarro, Alisha Boe u.a.
- Regie: Tom McCarthy
- Ausf. Produzenten: Tom McCarthy, Selena Gomez, Joy Gorman, Michael Sugar, Steve Golin u.a.
- Produktion: Anonymous Content, Paramount TV für Netflix
- Episoden: 13 in S1 (je ca. 55 Min.)
Auch das noch im Netflix-Portfolio: ein Teenie-Drama. Highschool, Zickenkrieg, erste Liebe und so. Aber «Tote Mädchen lügen nicht» – ein schwach eingedeutschter Titel gegenüber dem Originalnamen «13 Reasons Why» – erkämpft sich seinen legitimen Platz im oft ideenarmen Genre, auch wenn auf den ersten Blick vieles bekannt vorkommt: ein neues Mädchen an der Schule, erste Probleme, erste Feindschaften, neue Freunde, neuer Freund. Es gibt die Losertypen und die Machos, es gibt dunkle Geheimnisse – und bald gibt es eine Tote. Auch das kommt uns bekannt vor in solchen Serien, Stichwort «Twin Peaks» ganz früher oder «Riverdale» zuletzt. Der Tod durchbricht die Fassaden der Schüler und Erwachsenen, er verändert die Stimmung, deckt charakterliche Gräben auf. An dieser Formel ändert Netflix nichts.
Dennoch gibt es bei der Rezeptur einen gravierenden Unterschied zu anderen Teen-Dramen: Von Anfang an wissen wir, dass Hannah Baker Selbstmord begangen hat. Keine Suche nach dem Täter, kein Stochern im Dunkeln. Und: Keine vermeintlich außenstehende Beobachterin – wie beispielsweise bei «Gossip Girl» oder «Pretty Little Liars» –, kommentiert das Geschehen, sondern die Protagonistin selbst, um die sich sowieso alles dreht. Nur dass sie schon tot ist. Und dass sie die Geschichte, die nach ihrem Tod kommt, selbst schreiben will: Die tote Highschool-Schülerin Hannah führt Regie in dem Schauspiel, das ihr Selbstmord auslöst. Dazu hat sie 13 Audiokassetten persönlich aufgenommen, ganz altmodisch, damit keine Datei im digitalen Äther vervielfältigt wird. Auf diesen 13 Tondokumenten erzählt Hannah ihre Geschichte der Ereignisse, von dem Tag an, an dem sie als neue Schülerin an der Liberty Highschool aufgenommen wird.
Sie verspricht die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit über die Gründe ihres Selbstmords – und warum jeder Einzelne, der die Kassetten hört, mitschuldig daran ist. Die Serie beginnt dort, wo Mitschüler Clay die mysteriösen Kassetten geliefert bekommt. Später finden wir heraus, dass schon andere in deren Besitz waren – und dass Clay nicht der letzte sein wird. Denn Hannah hat genau festgelegt, wer die Tondokumente wann hören und an wen er sie weitergeben soll. Hält sich jemand nicht an die Regel, leakt ein Vertrauter die Bänder öffentlich und deckt damit alle Geheimnisse auf, die Hannah über ihre Mitschüler und die Erwachsenen verrät. Clay ist also gewarnt. Warum er ausgerechnet einer der Schuldigen für Hannahs Tod sein soll, kann er sich nicht erklären.
«Tote Mädchen lügen nicht» – oder doch?
Auch wir Zuschauer werden lange im Unklaren gelassen über das, was die Schülerin zum Selbstmord getrieben hat, nur wenige Monate nach ihrer Ankunft auf der neuen Schule. Was sie erzählt, ist zunächst nichts Ungewöhnliches: die typischen Highschool-Dramen um enttäuschte Liebe und Freundschaft, um Intrigen und Mobbing. Was brachte Hannah dazu, sich umzubringen? Der Zuschauer stellt sich diese Frage bald immer mehr. Hannah ist also die Regisseurin, und Clay ihr Schauspieler. Er folgt ihren Anweisungen, besucht die Orte ihres Schicksals. Kurz: Wir sind Clay. Wir als Zuschauer wissen genauso viel wie er, nicht mehr und nicht weniger. Und irgedwann, wenn Clay sich fragt, ob die tote Hannah überhaupt die Wahrheit erzählt, dämmert es auch in uns. Auf die Idee sind wir bisher nicht gekommen: Lügen tote Mädchen vielleicht doch? Schließlich ist es nur die eine Seite der Geschichte, die wir erzählt bekommen. Holen uns die Fake News auch hier noch ein?
Dieser Moment der Erleuchtung wirkt umso stärker, als wir Hannahs Geschichte in Rückblenden sozusagen live verfolgen. Die Serie spielt nur gefühlt zur Hälfte in der traurigen Gegenwart, zur anderen Hälfte in der Vergangenheit, in der wir Hannahs Alltag erleben. Aber ist diese Vergangenheit in Rückblenden nur ihre zusammengestrickte Vergangenheit, nur eine subjektive? Oder doch die objektive Wahrheit? Das Netflix-Drama spielt gekonnt mit diesen Parametern und hebt sich durch diese verschiedenen – persönlich gefärbten – Erzählebenen intelligent von anderen Teenie-Dramen ab.
Visuell wird dieser Spagat fabelhaft umgesetzt: mit Szenen, in denen Vergangenheit und Gegenwart wortwörtlich verschmelzen, und mit kontrastvoller Farbgebung. Die Rückblenden sind orangewarm und hell gehalten, die Gegenwart erscheint blaukalt. Indie-Soundtracks erster Klasse – zum Beispiel von Joy Division oder The Cure – unterstreichen den Thriller-Charakter dieser etwas anderen Highschool-Serie. Schauspielerisch bewegt sich das Format auf gewohnt höchstem Niveau, sodass manche zu klischeehaft geratene Charakterzeichnung abgemildert wird. Insbesondere die Hauptcharaktere Hannah und Clay werden von ihren Jungschauspielern beeindruckend verletzbar dargestellt.
Dass die Serie nach turbulentem Beginn nur langsam weitere Fahrt aufnimmt und der Spannungsbogen sich Zeit nimmt, ist der einzige größere – leicht verzeihbare – Makel. Nach vier Folgen hat Clay zwar vieles über Hannahs Kleinkriege und Verstrickungen mit ihren Mitschülern erfahren, aber nur wenig Substanzielles, das die entscheidende Frage beantworten lässt: Warum hat sie sich umgebracht? Aber auch dieser Umstand – das Tappen im Dunkeln – wird immer wieder von Clay, dem personifizierten Zuschauer, selbst angesprochen.
Die Puzzleteile werden sich noch schnell genug zusammenfügen. Allerspätestens mit Kassette 13.
Alle Episoden von «Tote Mädchen lügen nicht» sind ab sofort bei Netflix abrufbar.
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