Mit seiner Theaterstückadaption «Una und Ray» gelingt Regisseur Benedict Andrews ein Meisterwerk des subtilen Filmdramas. Doch ist sein beklemmendes Kammerspiel eine tragische Liebesgeschichte, oder das herbe Porträt eines seelischen Missbrauchs?
Filmfacts: «Una und Ray»
- Kinostart: 30. März 2017
- Genre: Drama
- FSK: 12
- Laufzeit: 94 Min.
- Kamera: Thimios Bakatakis
- Musik: Jed Kurzel
- Buch: David Harrower
- Regie: Benedict Andrews
- Darsteller: Rooney Mara, Ben Mendelsohn, Riz Ahmed, Ruby Stokes, Tobias Menzies
- OT: Una (UK/USA/CAN 2016)
Schon das Theaterstück «Blackbird» sorgte seinerzeit für Wirbel, nun hat Regisseur Benedict Andrews das Bühnendrama von David Harrower genutzt, um auf dessen Basis seinen ersten Kinofilm zu inszenieren. Und dieses ist ein ganz schön harter Brocken, denn kaum eine Geschichte der letzten Monate, vielleicht sogar Jahre, hat den Zuschauer in ein moralisch derart tiefgreifendes Dilemma katapultiert, wie die im Original lediglich «Una» betitelte Liebesgeschichte. Doch sogleich stellt sich hier die Frage, ob es sich bei Andrews Werk überhaupt um eine solche handelt, denn je nach Ansicht ließe sich der Film auch als Missbrauchsdrama deuten. In «Una und Ray» geht es um eine junge Frau, die 15 Jahre nach ihrem Verhältnis zu einem verheirateten Mann eine Aussprache einfordert. Das klingt soweit nicht verwerflich, bis man die Information einstreut, dass Una zum damaligen Zeitpunkt gerade einmal 13 Jahre alt war und Ray für den Sex mit ihr mehrere Jahre ins Gefängnis kam. Nach einer in Rückblenden erzählten, emotional und körperlich ergreifenden Liaison war Ray von jetzt auf gleich verschwunden. Doch macht das schon den Missbrauch aus? Haben sich Mädchen und Mann nicht vielleicht doch geliebt? Und wo verläuft die Grenze zwischen seelischer Abhängigkeit und romantischer Zuneigung? «Una und Ray» stößt den Zuschauer kontinuierlich vor den Kopf, lässt sich auf unterschiedliche Weise lesen und erweckt doch den Eindruck, wahrhaftig zu sein. Damit gelingt Benedict Andrews ein sich in die Köpfe des Publikums einprägendes Stück Dramakino – und einer der besten Filme des bisherigen Kinojahres.
Was geschah vor 15 Jahren?
Als eines Tages plötzlich die schöne Una (Rooney Mara) in seinem Büro auftaucht, wird Ray (Ben Mendelsohn) ungewollt mit seiner dunklen Vergangenheit konfrontiert. 15 Jahre zuvor verband ihn mit der damals noch minderjährigen Tochter seines Nachbarn eine verbotene Liebesaffäre, für die Ray schließlich verhaftet und verurteilt wurde. Inzwischen hat sich Ray unter anderem Namen ein neues Leben aufgebaut – für Una hingegen scheint die Zeit stillgestanden zu haben. Es folgt eine erbarmungslose Aufarbeitung längst begrabener Erinnerungen mit fatalen Konsequenzen.
Mit Ausnahme der kryptisch inszenierten Eröffnungsszene, auf die im Verlauf der kommenden eineinhalb Stunden nicht einmal mehr Bezug genommen wird, spielt sich «Una und Ray» hauptsächlich in jener Fabrik ab, in welcher Ray in leitender Position tätig ist. Ausgerechnet aufgrund der geglückten Wiedereingliederung in die Gesellschaft war es Una gelungen, ihre einst große Liebe ausfindig zu machen, entdeckte diese ihn doch auf dem Foto eines Zeitungsausschnitts wieder. Viel wissen wir zu Beginn weder über den männlichen, noch über den weiblichen Part der Geschichte. Und wenn wir Una in einer nur allzu kurzen Szene bei einem One-Night-Stand mit einem Fremden erleben, dann wirkt das als dargestellte Langzeitfolge ihrer schwierigen Vergangenheit fast schon provokant klischeehaft (erinnern wir uns nur an das hier ähnlich gelagerte Rührstück «Väter und Töchter»). Doch Unas seelische Abgestumpftheit mittels prägnanter Einzelszenen zu etablieren, ist wichtig, um die Machtverhältnisse zwischen Una und Ray klar zu definieren. Denn obwohl Una die Konfrontation mit Ray sucht und nicht umgekehrt, deutet schon der Gang in die Fabrik an, wie sehr sich der jungen Frau im Gedanken an die bevorstehenden Ereignisse der Magen umdreht.
Über Ray wissen wir zum Zeitpunkt des ersten Aufeinandertreffens nur das, was die bis dahin eingestreuten Flashbacks aus Unas Sicht zulassen. Und diese scheinen rückblickend derart verschwommen, dass wir genauso wenig wie Una selbst erahnen können, ob das Mädchen damals tatsächlich Opfer eines sexuellen Missbrauchs wurde, oder ob der attraktive Mann ihr „nur“ das Herz gebrochen hat.
Richtig oder falsch?
Auf diese Frage gibt Benedict Andrews bis zuletzt keine Antwort und hält sich damit sehr nah an der Inszenierung des Theaterstücks auf. Das sich voll und ganz auf seine kraftvollen Dialoge verlassene Drama spielt mit den verschiedenen Positionen von Una und Ray, lässt mal die junge Frau an Oberhand gewinnen, um wenig später damit zu spielen, dass es nach wie vor Ray ist, der als Einziger weiß, ob die Szenerie von einst als Missbrauch oder Liebe zu werten ist. Das Ringen um Anerkennung und die gegenseitigen Machtspielchen unterfüttert der Regisseur auch während des Gesprächs mit Rückblenden, die sich von verklärender Romantisierung ebenso lossagen, wie von böswilliger Interpretation. Wir sehen, was ist, wir sehen was war – nach einer gewissen Zeit auch aus der Sicht von Ray – doch was sich hinter der sichtbar brodelnden Fassade abspielt, werden weder die Menschen auf, noch vor der Leinwand je erfahren. Benedict Andrews geht sogar so weit, auch Ray irgendwann als Unwissenden zu zeichnen. Und wenn dieser sich Una gegenüber ahnungslos ob seiner Gefühle gibt, dann ist das keine Ausflucht aus einer unangenehmen Situation, sondern einen Tatsachenbeschreibung, die man dem mindestens genauso verwirrten Mann nicht wirklich übel nehmen kann.
Trotz alledem ist «Una und Ray» alles andere als ein Opferporträt. Benedict Andrews beschönigt nichts, zeigt, wie sich der Mann einst gewollt unter dem Radar der Öffentlichkeit mit dem jungen Mädchen traf und lässt Bilder für sich sprechen, die keinerlei zusätzliche Erklärung bedürfen. Am prägendsten gerät etwa eine Szene, in welcher sich Una und Ray in einem öffentlichen Park treffen und zeitversetzt in einem Dickicht aus Pflanzen verschwinden, um dort zu tun, was nicht getan werden darf. All das würde nicht funktionieren, würden Ben Mendelsohn («Rogue One: A Star Wars Story») und Rooney Mara («Carol») nicht derart lebensecht aufspielen, das selbst die kleinen Gesten zu einem regelrechten Spektakel werden. Obwohl die Rolle von Mara eher duckmäuserisch angelegt ist, strotzt die zierliche Mimin nur so vor Kraft und Leidenschaft, während Mendelsohn seiner Figur eine undurchdringbare Aura verleiht, die zugleich deutlich macht, weshalb die junge Frau diesem einst so sehr verfiel, dass sie selbst einen Missbrauch als Ausdruck von Liebe zu missinterpretieren bereit war. In einer wichtigen Nebenrolle ist außerdem Riz Ahmed («Jason Bourne») zu sehen, der dafür sorgt, dass «Una und Ray» mit einem lauteren Klang nachhallt, als es die Ausgangslage andeutet. Doch vielmehr wollen wir darüber nicht verraten – das soll der Zuschauer nicht nur selbst erleben, sondern auch mit sich und seinen Gefühlen ausmachen.
Fazit
«Una und Ray» begeistert nicht bloß mit formidablen Darstellerleistungen und einer auf das Wesentliche reduzierten Inszenierung, sondern lebt in erster Linie davon, dass man nicht weiß, ob das Gezeigte richtig oder falsch ist.
«Una und Ray» ist ab dem 30. März in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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