Wenn Ingo Lenßen am Abend wieder die Leitungen zu seiner «Recht-Sprech-Stunde» öffnet, dürfte die Twitter-Beteiligung für Sat.1-Gold-Verhältnisse wieder regelrecht gigantisch sein. Über ein besonderes Format, das die breite Masse bislang noch nicht erreicht hat - und trotzdem schon ein Unikat im deutschen Fernsehen ist.
Es war eine lange "Sommerpause", die sich
«Lenßen live» nach seinem letzten Einsatz Anfang Juni gegönnt hat. Und obwohl Sat.1 Gold immer und immer wieder sein Bestreben unterstrichen hat, die televisionäre «Recht-Sprech-Stunde» fortzusetzen, wurden die Unkenrufe nach über einem halben Jahr lauter, die das ernsthafte Bestreben des Spartensenders in Frage stellten, die Sendung fortzuführen. Immerhin hatte die Staffel im Spätfrühling aus Sicht der Einschaltquoten nun wahrlich keine Bäume ausgerissen (siehe Infobox), wo hingegen sich die Mittwoch- und Donnerstagabende mit alten Ermittler-Dokus wirtschaftlich überaus lukrativ füllen lassen. Aber die Call-In-Rechtsberatung bescherte dem Sender etwas, das gerade für kleinere Programmstationen manchmal sogar einen höheren Wert besitzt als die gute, alte Einschaltquote: Relevanz, Aufmerksamkeit und eine bemerkenswerte Beteiligung auf den Social-Media-Plattformen - insbesondere Twitter. Und genau deshalb gehen ab sofort immer donnerstags gegen 22:15 Uhr auch sechs brandneue Folgen an den Start.
Was einige Fans überraschen dürfte: Am Abend startet bereits die dritte, nicht erst die zweite Staffel - denn schon im letzten Quartal 2015 hatte Sat.1 Gold das Format erstmals getestet, damals aber noch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit und mit lediglich etwa einstündigen Folgen. Erst im vergangenen Sommer griff die Twitter-Euphorie dann so richtig um sich, als sich die skurrilen Anrufer mit ihren sehr speziellen Rechtsfragen mehrten - und die großen Fernsehsender zugleich eben mal wieder überwiegend nur die belanglose Routine ablieferten, in der sie sich zumeist so exzellent gefallen.
Erst die Twitter-Gemeinde, dann die breite Masse?
Wenn also auch die hippen Jungs und Mädels erstmal eine Staffel verschlafen haben, bis sie «Lenßen live» für sich entdeckten - ist es dann nicht absolut denkbar und möglich, dass es durch die gestiegene mediale Präsenz in den kommenden Wochen auch von zahlreichen Menschen fernab des Hashtag-Soziotops kennen- und lieben gelernt wird? Diese Frage ist präskriptiv nicht ganz so leicht zu beantworten wie die Frage nach der Entstehung dieses besonderen Kults, der aus einer gelungenen Mixtur von Live-Interaktivität mit dem Publikum, einem charismatischen und erstaunlich spontanen Moderator sowie dem Aufdecken der kleinen Marktlücke TV-Rechtsberatung entstanden ist. Klingt wahnsinnig schlicht und ergreifend. Ist es irgendwo auch, doch ist anzumerken, dass
A) diese drei Elemente erstmal so passgenau ineinander greifen müssen wie bei «Lenßen live» und
B) ein Sender erstmal die Chuzpe dazu haben muss, diesen Austritt aus seiner lähmenden Routine zu wagen.
Das letzte große Konkurrenz-Format, das mit einem ganz ähnlichen Ansatz aufwartete, wenngleich eher mit seelsorgerischer als juristischer Intention, war «Domian» - das sich allerdings vor gut zwei Monaten nach mehr als 21 Jahren verabschiedete. Auch hier wurde die direkte Interaktion mit dem Rezipienten von einem Mann zelebriert, der für viele seiner Zuschauer mehr war als irgendein selbstverliebter Fernsehfritze: ein Berater, ein Begleiter durch die Nacht, ein guter und in besonders dramatischen Fällen manchmal sogar der letzte Zuhörer. Nun kann man in Frage stellen, ob Ingo Lenßen als bekanntes Gesicht einer trashigen, schlecht gespielten und gescripteten Ermittler-Soap mit Jürgen Domian zu vergleichen ist. Aber in «Lenßen live» hat er bislang viel zur eigenen Image-Kosmetik beigetragen und sich als erfreulich empathischer und authentisch um das Wohl seiner TV-Mandanten bemühter Rechtsexperte präsentieren können, ohne den trockenen Humor einzubüßen, der «Lenßen & Partner» inmitten eines Konvoluts an grausig schlechten Drehbuchautoren und Laiendarstellern zwischendurch mal für wenige Sekunden beinahe ansehbar gemacht hat.
Rekurrierend auf die Frage, ob am Ende dieser Staffel dann vielleicht auch mal ein zufriedenstellendes Quoten-Fazit zu buche stehen könnte, lässt sich in alter Juristen-Tradition ganz eindeutig mit "ja, aber" antworten. Ingo Lenßen hat bereits bewiesen, dass er das nötige Charisma besitzt, um die Sendung zu tragen und viele Menschen auch emotional zu erreichen. Die taktisch clevere Doppel-Programmierung mit «Lenßen klärt auf» kann überdies dazu führen, dass der nötige Audience Flow von der Primetime hin zum späteren Abend gewährleistet wird und sich viele Menschen die Vier-Stunden-Lenßen-Dauerbeschallung gönnen möchten. Dabei ist der um 20:15 Uhr gezeigte Ratgeber auf der einen Seite eher als Warm-Up auf das anschließende Social-Media-Highlight zu verstehen, dürfte gleichzeitig aber zumindest etwas massentauglicher sein als die von einigen Fans erhoffte Primetime-Präsentation von «Lenßen live». Diese clever programmierte Lenßen-Doppeldosis ist neu und birgt definitiv Chancen.
Warum es wieder eng werden könnte mit dem Quotenhit
Andererseits tritt man künftig in direkte Konkurrenz mit dem «Neo Magazin Royale», das eine ähnlich verblüffende Twitter-Quoten-Diskrepanz prägt wie Lenßens Recht-Sprech-Stunde. Und obgleich die Zielgruppe mit Sicherheit nicht identisch ist, dürfte es doch einige Überschneidungen geben - vor allem aber die Gemeinsamkeit, dass beide Angebote ein Publikum erschließen, das Fernsehen als kleines abendliches "Event" begreift, das nicht einfach nur als Hintergrundberieselung wegzukonsumieren ist. Der Twitter-Präsenz könnte das schaden, den Quoten vermutlich weniger. Hier lässt sich die den TV-Idealisten ebenso wie auch den Eventorientierten traurig stimmende Realität unter die Nase reiben, das gerade bei Spartensendern zumeist weniger die ambitionierten Eigenproduktionen oder hochklassigen Serien für die wirklich hohen Einschaltquoten sorgen, als viel mehr bekannte Marken in ihrer zweiten, dritten oder auch fünfzigsten Verwertung.
Man muss sich dieser Ambivalenz also bewusst sein, wenn man sich fragt, wie es denn sein kann, dass die Twitter-Timeline überquirlt und am nächsten Tag wieder lausige 0,X Prozent Marktanteil für ein Format ausgewiesen wird, über das in zwei Stunden mehr diskutiert wird als sonst gerne mal über das Programm von Sat.1 Gold in einer ganzen Woche. Der Durchschnittszuschauer geht bei seiner Konsumentscheidung tendenziell eher den Weg des geringsten kognitiven Widerstandes und schaut im Zweifelsfall eher noch eine vierte Folge von «K 11» - weil er das halt schon oft so getan hat. Umso dankbarer darf man also Programmverantwortlichen sein, die sich davon nicht vollständig einlullen lassen und interaktiven Formaten wie «Lenßen live» eine Bühne geben. Und manchmal, aber nur manchmal, schlägt sich das dann auch positiv auf die harte Währung Einschaltquote nieder.
In diesem Sinne: Viel Spaß bei den sechs neuen Folgen, die bis Ende März immer donnerstags gegen 22:15 Uhr an den Start gehen.
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