Die Presse bezeichnet ihn immer noch als „Regie-Wunderkind“ und nach Xavier Dolans spektakulären Dramen «Laurence Anyways», «Sag nicht, wer Du bist» und «Mommy» ist dieser Titel auch kein Wunder. Doch mit «Einfach das Ende der Welt» ist nun erst einmal Schluss mit den Lobeshymnen.
«Einfach das Ende der Welt»
- Kinostart: 29. Dezember
- Genre: Drama
- FSK: 12
- Laufzeit: 99 Min.
- Kamera: André Turpin
- Musik: Gabriel Yared
- Buch und Regie: Xavier Dolan
- Darsteller: Nathalie Baye, Vincent Cassel, Marion Cotillard, Gaspard Ulliel, Léa Seydoux, Théodore Pellerin, Antoine Desrochers
- OT: Juste la fin du monde (KAN/FR 2016)
Er hat junge Menschen bei ihrer Identitätsfindung beobachtet («Laurence Anyways»), ein zerrüttetes Mutter-Sohn-Verhältnis seziert («Mommy») und im Namen seines verstoßenen Protagonisten um familiäre Anerkennung gebeten («Sag nicht, wer Du bist!») – dem 1989 in Montreal geborenen Regisseur und Drebuchautor Xavier Dolan gelang es dadurch schnell, sich den Respekt von Kritikern zu erarbeiten, die ihm sogleich den prestigeträchtigsten Stempel „Wunderkind“ aufdrückten. Immerhin feierte er sein Regiedebüt bereits im Jahr 2009, als sein semi-autobiographisches Drama «I Killed My Mother» sogar auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes vorgestellt wurde. Als der Kanadier daraufhin einen Arthouse-Hit nach dem anderen aus dem Hut zauberte, kam keiner auf die Idee, ihm diesen Status abzuerkennen. Bis jetzt! Wenngleich sich sein neuestes Projekt, die ebenfalls in Cannes vorgestellte Theaterstück-Adaption «Einfach das Ende der Welt», aktuell immer noch im Oscar-Rennen um den besten fremdsprachigen Film befindet, ist die Resonanz auf das starbesetzte Familiendrama gar nicht mehr so gut und schon gar nicht mehr so einheitlich. Zwar arbeitet Dolan für sein Kammerspiel-Streitgespräch erstmals mit internationalen Stars wie Vincent Cassel («Jason Bourne»), Marion Cottilard («Assassin’s Creed») und Léa Seydoux («James Bond 007: Spectre») zusammen, doch anders als die bisherigen Werke des jungen Regisseurs präsentiert sich «Einfach das Ende der Welt» ebenso grobmotorisch wie emotionslos; von der genauen Beobachtungsgabe Dolans sowie seiner bedingungslosen Liebe zu den Figuren ist hier weit und breit nichts zu spüren.
Der verlorene Sohn kehrt zurück
Nach über zwölf Jahren kehrt Louis (Gaspard Ulliel) zum ersten Mal nach Hause zurück und versetzt damit seine Familie in helle Aufregung. Doch die anfängliche Freude über die Heimkehr des verlorenen Sohnes und Bruders schlägt schnell um: Alte Wunden brechen auf und bald finden sich alle zurück in alten Mustern, vollkommen unfähig, miteinander zu sprechen. Wird es Louis gelingen das zu tun, wofür er gekommen ist?
Dass «Einfach das Ende der Welt» ursprünglich auf einem Theaterstück basiert, kann man sich im Anbetracht des fertigen Films richtig gut vorstellen. Xavier Dolan lässt seine Protagonisten eineinhalb Stunden lang und in bester Kammerspielmanier allerhand Dialog von sich geben und lässt dabei eine Situation eskalieren, die allerdings schon vor Einsetzen der eigentlichen Handlung eskaliert ist. Für die Dramaturgie des Films ist das leider ein großes Problem; hinzu kommt, dass sich sämtliche Charaktere in «Einfach das Ende der Welt» darüber definieren, wie hasserfüllt und antipathisch sie dem das Geschehen erst in Gang bringenden Louis gegenüber treten. Dieser kehrt nach Jahren der Abwesenheit zu seiner Familie zurück, die ihm ausgerechnet daraus einen Strick zu drehen versucht, sehr lange nicht bei ihr gewesen zu sein.
Betrachtet man allerdings die innerfamiliären Fehden sowie die sukzessive immer stärker werdende Dysfunktionalität unter den Brüdern und Schwestern, dann kommt beim Betrachter schnell die Frage auf, weshalb Louis in der Vergangenheit denn überhaupt hätte nach Hause kommen sollen. «Einfach das Ende der Welt» ist die Geschichte eines aggressiven Streits zwischen Menschen, die ihre Aggressionen nicht einmal oberflächlich verbergen wollen. Im krassen Gegensatz dazu steht allenfalls die Figur Marion Cottilards; die von ihr gespielte Catherine, Schwägerin von Louis und Ehefrau des cholerischen Antoine, fügt sich allerdings derart selbstverständlich in ihre duckmäuserische Kleinmädchenrolle ein, dass sie nicht als erfrischender Gegensatz funktioniert, sondern die Funktionalität ihres gegensätzlichen Rollentypus glatt verpuffen lässt.
Auf der einen Seite sehen wir die Eskalation, auf der anderen Seite den Versuch der Deeskalation. Gleichzeitig sind die Streitgründe zwischen den Geschwistern derart banal (Vincent Cassels Figur etwa ist einfach nur ein durch und durch engstirniger Macho, der bei jeder von seiner abweichenden Meinung konsequent in die Luft geht) und die Figuren besitzen keinerlei Feingefühl dafür, die Argumentationen ihrer Gegenseite verstehen zu wollen, sodass sich «Einfach das Ende der Welt» anfühlt, als sähe man gerade einer Gruppe Kleinkindern dabei zu, wie diese sich einfach nur darin zu übertrumpfen versucht, „mehr Recht“ zu haben, als der andere. Das ist nicht nur ermüdend, sondern dreht sich auch bis zuletzt im Kreis; von der Geschliffenheit der Dialoge sowie der genauen Beobachtungsgabe aus Dolans früheren Werken ist in «Einfach das Ende der Welt» nichts mehr zu sehen. Dass sich das Drama dennoch in einigen (Vor-)Auswahlen internationaler Filmpreise behaupten kann, liegt in erster Linie wohl an den Schauspielern.
Der Versuch, eine Eskalation eskalieren zu lassen
Das Who-is-Who der französischen Schauspielszene, das zum Großteil auch in Hollywood erfolgreich ist, darf sich in Dolans Film den Hass von der Seele spielen. Gerade bei Vincent Cassel gelingt das überaus passioniert, doch mehr als die Facette des neurotischen Menschenhassers kann er seiner einfältigen Rolle nicht abgewinnen. Und leider gilt das auch für den Rest des Ensembles. Vor allem Gaspard Ulliel («Yves Saint Laurent») bleibt in seiner ohnehin schon sehr zurückhaltenden Rolle konsequent passiv; gegen seine starken Co-Darsteller anzuspielen, gelingt ihm nicht.
Wie schon in Dolans älteren Filmen bleibt sich der kanadische Regisseur auch bei «Einfach das Ende der Welt» in vielen inszenatorischen Details treu, die anders als etwa in «Mommy» allerdings lediglich Selbstzweck zu sein scheinen. So greift er auch diesmal an mehreren Stellen auf bekannte Pop-Stücke zurück, um in Form eines musikalischen Statements die Bedeutung der Szene zu unterstreichen. In der aller letzten Sekunde – der Überblende von Szene zu Abspann – gelingt das auch ganz vortrefflich. Mit Mobys „Natural Blues“ fasst Dolan die fast schon apokalyptische Stimmung dieses Familientreffens hervorragend zusammen und schafft es auch in den fünf symbolträchtigen Minuten zuvor, den schwachen Film auf fulminante Weise zu Ende zu bringen. An anderer Stelle ist von dieser Poesie hingegen nichts zu spüren. Der Einsatz des Sommerhits „Dragostea Din Tei“ kommt aus dem Nichts und wirkt in seiner Aufdringlichkeit fast schon hipsteresk. Abseits der Musikuntermalung fällt vor allem die visuelle Suche nach Nähe zu den Figuren auf. Wann immer es geht, bewegt sich Kameramann André Turpin (drehte auch das Erfolgsvideo zu Adèles „Hello“) so nah wie möglich an seine Figuren heran, sodass in manchen Einstellungen nicht einmal das vollständige Gesicht auf der Leinwand zu sehen ist. Es unterstreicht die klaustrophobische Atmosphäre von «Einfach das Ende der Welt»; aber auch, dass Dolan in dieser Inszenierung wohl mehr sieht, als zu guter Letzt in ihr steckt.
Fazit
Die wirklich starke Schlusssequenz einmal ausgenommen, erzählt «Einfach das Ende der Welt» von einer längst eskalierten Eskalation – am Ende brüllen sich die verschiedenen Parteien an. Und als Zuschauer sind einem beide Seiten egal, denn sympathisch ist hier keiner.
«Einfach das Ende der Welt» ist ab dem 29. Dezember in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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