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'Eine Hauptfigur braucht einen Makel'

Anlässlich des Kinostarts von «Findet Dorie» hat sich Quotenmeter.de mit den Synchronsprechern Anke Engelke, Christian Tramitz und Franziska van Almsick sowie mit Regisseur Andrew Stanton unterhalten.

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Andrew Stanton: „Ich hätte «Findet Dorie» nicht erzählt, wäre Dorie schlicht ein durchweg fröhlicher Fisch“


Steckbrief Andrew Stanton

  • Geboren: 3. Dezember 1955
  • Regiedebüt: Der Kurzfilm «A Story» von 1987
  • Stieß 1990 zu Pixar, als der neunte Angestellte der Firma
  • Führte Co-Regie bei «Das große Krabbeln»
  • Gewann je einen Academy Award für «Findet Nemo» und «WALL·E»
  • War für drei Oscars für das beste Original-Drehbuch nominiert sowie einmal für das beste adaptierte Drehbuch
Bevor wir über «Findet Dorie» sprechen, möchte ich kurz auf «John Carter» eingehen: Der Film ging an den Kinokassen bekanntlich unter. Doch manchmal überraschen einen Filmstudios ja und kündigen Fortsetzungen totgeglaubter Filmreihen an. Daher: Sollten Sie morgen einen Anruf von Disney-Boss Bob Iger erhalten, der plötzlich «John Carter 2» sehen will – würden Sie zusagen? Oder ist das Kapitel für Sie abgeschlossen?
(lacht) Ich fürchte, ich würde die Darsteller jetzt nicht mehr zusammentrommeln können. Aber wenn sie mit dem Wunsch auf mich zukommen würden, einen zweiten Teil zu drehen, so würde ich ernsthaft darüber nachdenken. Ich hatte ursprünglich eine Trilogie im Sinn, daher ist es sehr frustrierend, dass ich nicht einmal die Gelegenheit bekam, den zweiten Teil zu machen. Doch realistisch betrachtet: Mit jedem Jahr, das verstreicht, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass «John Carter 2» auf die Beine gestellt wird. Nicht zuletzt, weil die Darsteller ja älter werden und langsam aus den Rollen raus wachsen.

«Findet Dorie» ist gewissermaßen das Gegenteil von «John Carter»: Bei «John Carter» hatten sie es auf eine Trilogie abgesehen, und es blieb bei einem Teil. «Findet Dorie» dagegen existiert, obwohl «Findet Nemo» zunächst kein Sequel erhalten sollte …
Ja, ich habe erst kürzlich zu einem Kollegen im Scherz gesagt: „Schon komisch. Mit «John Carter» habe ich einen Film gemacht, den niemand sehen wollte, ganz egal, was ich mache. Und mit «Findet Dorie» bringe ich nun einen Film raus, den jeder sehen will, ganz gleich, was ich tu oder sage.“

Ja, ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie Sie sich jahrelang gegen die Vorstellung eines neuen Abenteuers mit Marlin, Nemo und Dorie gewehrt haben. Ich will jetzt nicht Ihre ganzen, vehementen Zitate raussuchen, Sie erinnern sich bestimmt selber … (lacht) Was ist vorgefallen, dass Sie Ihre Meinung geändert haben?
Als ich mir «Findet Nemo» das erste Mal nach sieben Jahren angesehen habe, habe ich festgestellt, dass wir damals die Geschichte von Dorie gar nicht zu Ende erzählt haben.
Andrew Stanton
2011 wurde ich gebeten, mir die 3D-Konvertierung von «Findet Nemo» anzuschauen, damit ich sie absegnen kann. Dass war das erste Mal nach rund sieben Jahren, dass ich mir den Film angesehen habe, und dabei habe ich festgestellt, dass ich ihm nun aus einem völlig neuen Blickwinkel betrachte. Mir fiel erstmals auf, dass wir damals die Geschichte von Dorie gar nicht zu Ende erzählt haben. Sie ist am Ende von «Findet Nemo» noch immer ratlos, wo sie herkommt. Sie ist weiterhin sehr verletzlich. Sie trägt eine Traurigkeit mit sich, weil sie sich die Schuld daran gibt, durch ihren Gedächtnisschwund anders zu sein. Sie erachtet ihr Handicap als etwas schlechtes. Sie war nicht mit sich selbst im Reinen, und ich saß da in einem großen Kinosaal und sehnte mich danach, ihr zu helfen, Frieden zu finden.

Da habe ich bemerkt, dass Dorie alle Grundvoraussetzungen für eine makelbehaftete Hauptfigur mit sich bringt, und so fing ich an, mich mit der Idee eines zweiten Films anzufreunden. Wobei ich weiterhin keine typische Fortsetzung erzählen wollte. Ich nahm mir vor, den Film eher wie ein nächstes Kapitel anzugehen, das eine quasi-alleinstehende Geschichte erzählt. Man sollte «Findet Dorie» sehen und verstehen können, ohne «Findet Nemo» zu kennen, doch wenn man «Findet Nemo» schon kennt, sollte «Findet Dorie» Dories unvollendeten Charakterbogen zufriedenstellend abschließen.

Und somit stand für Sie fest: „Mein nächster Film wird «Findet Dorie»!“?
(lacht) Nein! Ich war zu der Zeit mit den letzten Zügen der «John Carter»-Produktion beschäftigt und felsenfest davon überzeugt, dass ich danach «John Carter 2» drehen werde. Mein ursprünglicher Gedanke bezüglich «Findet Dorie» war, dass ich die Story entwickeln und den Film produzieren werde, aber einem anderen Regisseur anvertraue: Angus MacLane, der dann so gütig war, bei «Findet Dorie» als mein Co-Regisseur zu fungieren, als die Realität auf mich hereinbrach und «John Carter 2» nicht zustande gekommen ist.

«Findet Dorie» geht logischerweise intensiver auf Dories Benachteiligung ein als noch «Findet Nemo», wo es zwar auch ernstere Zwischentöne im Umgang damit gab, Dories Gedächtnisschwund hauptsächlich aber als Grundlage für Gags herhielt. Ist der sensiblere Umgang mit Dories Behinderung auch dadurch bedingt, dass sich nun durch Social Media mehr und mehr Zuschauergruppen zu Wort melden können, wenn sie sich einseitig repräsentiert fühlen? Hollywood kommt heute nicht mehr so einfach mit potentiell verletzenden oder leichtfertigen Darstellungen davon wie noch vor 10 oder gar 20 Jahren …
Man darf nicht vergessen: Unsere Filme brauchen ja mindestens vier Jahre Produktionszeit. Wenn sie im Kino anlaufen und dem aktuellen Zeitgeist entsprechen, so ist das ein glücklicher Zufall. Würden wir versuchen, vorherzusagen, wie die gesellschaftliche Befindlichkeit in vier Jahren aussieht, könnten wir uns nicht mehr auf die Geschichten konzentrieren.
Andrew Stanton
Man darf nicht vergessen: Unsere Filme brauchen ja mindestens vier Jahre Produktionszeit. Wenn sie im Kino anlaufen und dem aktuellen Zeitgeist entsprechen, so ist das ein glücklicher Zufall. Würden wir versuchen, vorherzusagen, wie die gesellschaftliche Befindlichkeit in vier Jahren aussieht, könnten wir uns nicht mehr auf die Geschichten konzentrieren. In diesem Fall ist es so, dass Dorie für mich schon immer eine tragische Note hatte, selbst wenn ich sie in «Findet Nemo» nur kurz habe durchschimmern lassen. Trotzdem hat das Publikum diese Seite an Dorie als Teil von ihr akzeptiert: Es gibt die Szene, wo sie Marlin anfleht, sie nicht allein zurückzulassen, sie weint geradezu – diese Szene würde böse herausstechen, wenn wir nicht den ganzen Film über unterschwellig vermittelt hätten, dass Dorie zwar praktisch durchweg ein glückliches Gesicht aufsetzt und sehr optimistisch, aber auch verletzlich ist und sich verloren fühlt.

Daher ist es uns nun auch möglich, diese Seite an Dorie stärker zu beleuchten, zu zeigen, dass sie sich schlecht fühlt, weil sie lange Zeit allein durch den Ozean geirrt ist und das Gefühl hat, daran schuld zu sein. Diese Aspekte von Dories Persönlichkeit sind schon im ersten Film verwurzelt, und ich stelle sie nun stärker raus, weil es einfach eine interessantere Geschichte ergibt. Ich hätte «Findet Dorie» nicht erzählt, wäre Dorie schlicht ein durchweg fröhlicher Fisch. Egal, wie beliebt Dorie ist – das würde keinen ganzen Film tragen. Eine Hauptfigur braucht einen Makel, ihr muss etwas fehlen, sie muss etwas an sich haben, das sich ändern muss. Kurzum: Diese Tragik an Dorie, und konsequenterweise der einfühlsame Umgang mit ihr, musste im Film vorkommen, weil wir versuchen, einen guten Film zu erzählen – und nicht, weil wir auf über den Zeitgeist spekuliert haben.

Die Musik zu «Findet Dorie» stammt erneut von Thomas Newman, der schon «Findet Nemo» und «WALL·E» als Komponist tätig war. Bei einer so lang zurückreichenden Arbeitsbeziehung frage ich mich: Wird es für Sie allmählich immer schwerer, ihm noch Anweisungen zu geben?
Ich habe das große Vergnügen, mit so vielen wundervollen Leuten zusammenarbeiten zu dürfen, doch Thomas Newman hat etwas an sich, das mich offener werden lässt. Wenn ich mit ihm über einen Film spreche, hat es etwas von einer Beichte. Oder eher von einem Therapeuten.
Andrew Stanton
(lacht) Ja, es gibt diese Falle, in die man treten kann, wenn man sich lange kennt und glaubt, schon erraten zu können, was dein Gegenüber wohl sagen wird, ehe es den Mund aufgemacht hat. Dennoch: Ich glaube, es gibt niemanden, auf dessen Zusammenarbeit ich mich im Rahmen eines Films mehr freue, als auf die Begegnungen mit Thomas. Ich habe das große Vergnügen, mit so vielen wundervollen Leuten zusammenarbeiten zu dürfen, doch Thomas hat etwas an sich, das mich offener werden lässt. Wenn ich mit ihm über einen Film spreche, hat es etwas von einer Beichte. Oder eher von einem Therapeuten: Ich kann bei ihm sehr frei darüber reden, welche Gefühle ich auf abstrakte Weise einzufangen versuche. Ich schätze, es hat etwas damit zu tun, dass der Prozess des Musikmachens ebenfalls etwas Abstraktes an sich hat, Musik selber aber so emotional ist. Vermutlich führt das dann, zusammen mit Thomas‘ Art, dazu, dass ich förmlich immer mit einem besseren Verständnis meines Films aus unseren Gesprächen rausgehe. Und das ist mir auch sehr wichtig, weil für mich Musik eine der bedeutsamsten Komponenten von Filmen ist.

Gerade daher stelle ich mir das Erstellen der Filmmusik bei einer Fortsetzung besonders knifflig vor – vielleicht sogar kniffliger als das Finden einer guten Sequel-Geschichte. Denn einerseits soll die Beziehung zum Vorgänger bestehen bleiben, andererseits soll der neue Film akustisch eine eigene Identität haben, statt nur ein 'Best of'-Album oder eine Remix-Sammlung darzustellen … Wie haben Sie versucht, diese Balance zu finden?
Ich behandle Thomas praktisch wie ein weiteres Ensemblemitglied. Er bringt einen eigenen Klang mit sich mit – auch wenn er bei jedem seiner Filme neue Stilrichtungen und Stimmungen ausprobiert, kann man immer erahnen, dass er die Musik komponiert hat. Das hilft einfach. Thomas hat dahingehend etwas von John Williams: Man erkennt eine John-Williams-Komposition, wenn man sie hört. Dadurch, dass Thomas für «Findet Dorie» zurückgekehrt ist, war also bereits klar, dass der Stil aus «Findet Nemo» bestehen bleibt, ganz gleich, wie viele neue musikalische Themen wir einführen. Thomas verstand dieses Projekt eh als aufregende Herausforderung: Er wollte neue Stücke schreiben, die denen aus «Findet Nemo» ähneln, dann aber neue Abzweigungen nehmen. Vieles entstand auch durch Improvisation – wir fingen mit «Findet Nemo»-Melodien an und arbeiteten uns zu neuen, aber verwandt klingenden Themen vor. Die Musik aus «Findet Dorie» sollte wie ein Cousin sein – dieselbe Familie, aber anders.

Herzlichen Dank für das Gespräch.
Auf der nächsten Seite: Anke Engelke, Christian Tramitz und Franziska van Almsick sprechen über die Synchronarbeiten von «Findet Dorie».
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01.10.2016 17:17 Uhr Kurz-URL: qmde.de/88453
Sidney Schering

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