Die glorreichen 6: Kleinode der heutigen Science-Fiction (Teil VI)
Sechs Filme aus diesem Jahrtausend. Sechs Formen der Science-Fiction. Sie alle haben gemeinsam: Es sind starke Werke abseits großer Hollywood-Franchises. Dieses Mal: «Midnight Special».
Die Story
Filmfacts:«Midnight Special»
Genre: Sci-Fi/Drama/Thriller
FSK: 12
Laufzeit: 112 Min.
Musik: David Wingo
Kamera: Adam Stone
Buch und Regie: Jeff Nichols
Darsteller: Michael Shanning, Jaeden Lieberherr, Adam Driver, Kirsten Dunst, Joel Edgerton, Sean Bridgers, Sam Shepard
OT: Midnight Special (USA 2016)
Die Geschichte beginnt mit den Breaking News irgendeines beliebigen US-Fernsehsenders. Es geht um die Entführung eines kleinen Jungen. Sein Name: Alton Meyer (Jaeden Lieberherr). Gekidnapped worden sei er von zwei Männern namens Roy (Michael Shannon) und Lucas (Joel Edgerton), beide bewaffnet und gefährlich. Dass Alton zu keinem Zeitpunkt in Not ist, offenbart ein Blick auf die Menschen, die vor jenem Fernseher sitzen, der gerade besagte Nachrichtensendung ausstrahlt. Es sind die beiden Männer, die in aller Seelenruhe ihr Zeug zusammenpacken, sich den tiefenentspannten und zu keinem Zeitpunkt Angst zeigenden Alton schnappen und sich in ihrem Auto aufmachen in Richtung eines unbekannten Ziels. Zur selben Zeit befragt das FBI eine Gruppe religiöser Extremisten, die ebenfalls hinter Alton her sind. Denn Alton ist kein normaler Junge. Er hat eine Gabe. Und diese Gabe macht ihn entweder zur Waffe, oder zur Rettung für die gesamte Menschheit…
Die Themen
Bei «Midnight Special» handelt es sich nicht um einen ausschließlichen Science-Fiction-Film. Stattdessen reißt die Indie-Produktion viele Themen abseits einer futuristischen Weltsicht an. Vor allem die Frage, ab wann ein Individuum aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten zur Gefahr für die Allgemeinheit wird, reißt Jeff Nichols hier an. Ab wann dürfen sich Menschen von ihrem Individuumsdasein freisprechen lassen, um im Sinne der Gesellschaft für größere Zwecke zurate gezogen zu werden? Darf sich ein Sinn für die Allgemeinheit über die Liebe von Mutter und Kind stellen lassen? Und wo verschwimmen die Grenzen zwischen legalem Handeln und einer Straftat? Die Story von «Midnight Special» bräuchte gar kein Science-Fiction-Gewand, sondern würde auch als klassisches Drama funktionieren. So aber verleiht man dem Thema direkt größere, gleichsam auch außerweltliche Ausmaße.
Spoilerwarnung: Vor der Filmsichtung sollte auf den Trailer verzichtet werden!
Die 6 glorreichen Aspekte von «Midnight Special»
«Midnight Special» hat zunächst einmal eine ganz besondere Stärker und das ist Regisseur Jeff Nichols («Take Shelter», «Mud»). Dessen Werke lassen sich nur äußerst ungern in eine einzelne Sparte pressen, da der Filmemacher mit so vielen verschiedenen Einflüssen hantiert, dass man als Zuschauer gut beraten ist, wenn man dieses im weitesten Sinne wohl dem Drama- und Science-Fiction-Genre zugehörige Regieprojekt Nichols‘ als unvorhersehbare Wundertüte annimmt. Als solche entfaltet das dieses im Wettbewerb der Berlinale gelaufene Indie-Schmuckstück nämlich seine größte Wirkung – als einer der besten Filme dieses Jahres.
Es war schon immer eine ganz besondere Stärke des Inszenators, ein gängiges Blockbuster-Thema mit einer Independent-Inszenierung zu verbinden. Ganz ähnlich verhält es sich nun auch mit «Midnight Special», einem Film, über den man vorab so wenig wie möglich wissen sollte, damit sich die vielen Twists und Wendungen erst beim Schauen, und nicht schon vorab in den Köpfen des Zuschauers entfalten. Innerhalb der ersten halben Stunde glaubt man sich nämlich noch in einem herkömmlichen Geisel-Thriller, bis es – im wahrsten Sinne des Wortes – „Wumm!“ macht und die Umstände des Films auf einmal in einem ganz anderen, auch im wörtlichen Sinne, Licht erstrahlen. Dass man es beim kleinen Alton nicht mit einem normalen Jungen zu tun hat, das weiß man ab der ersten Minute. Doch wo genau die Reise hingeht, was es mit seiner Herkunft, seinem Ziel und auch mit der ganzen Armada aus Verfolgern auf sich hat, das entblättert der Film erst nach und nach und auch bis zum Schluss nicht vollständig.
Jeff Nichols legt innerhalb seines Skripts sehr geschickte Fährten, schreckt aber auch nicht davor zurück, Fallen zu stellen. Wenn er etwa früh andeutet, Alton hätte möglicherweise Fähigkeiten, die nicht von dieser Welt stammen, er parallel dazu aber die Vernehmung fanatischer Sektenmitglieder zeigt, dann ist es doch fraglich, wie viel Wahrheit in den vermeintlich übernatürlichen Kräften Altons steckt, könnten all die Schilderungen der Gläubigen doch auch sehr gut auf Wahnsinn begründet sein. Es dauert eine ganze Weile, bis man sich als Zuschauer erstmalig traut, überhaupt eine Ahnung darüber abzugeben, worauf genau «Midnight Special» eigentlich hinaus will. Doch da sich die Geschichte binnen weniger Minuten immer wieder erneut um die eigene Achse dreht, offenbart sich schnell, dass hier inhaltlich alles möglich sein könnte. Außerirdische Kräfte, religiöser Fanatismus, geheime Verschwörungen der Regierung oder blinder Hokuspokus? Der Zuschauer wird noch ordentlich ins Stauen kommen.
Eine erzählerische Ordnung in Nichols‘ Film zu finden, ist schwer. Doch genau dadurch entwickelt der Film einen Sog, dem man sich als Zuschauer bei aller Behutsamkeit in Tempo und Inszenierung nicht entziehen kann. Die Macher nutzen allerdings nicht bloß die stille Spannung zum Suspense-Aufbau, sondern finden in einzelnen Tempo-, und Effektspitzen die Möglichkeit, den Film für einen kurzen Moment zu entladen. Es gibt technisch und stilistisch hervorragend choreographierte Verfolgungsjagden, vereinzelt absolut sehenswerte Computereffekte (deren genauen Umfang ebenfalls nicht spoilern wollen) und vom Gewaltgrad her nicht zu unterschätzende Nahkampfszenen und Schießereien. Trotzdem liegt auf all diesen klassischen Thrillerelementen nicht der Fokus. «Midnight Special» lebt von seinem betörenden Kammerspielflair, getragen von einer nie einschätzbaren Atmosphäre.
Neben all den Darstellerleistungen und der annähernden Makellosigkeit des Skripts fällt in «Midnight Special» aber vor allem eines auf: die technische Umsetzung. Während sich die wenigen, dafür aber umso mehr überzeugenden Special Effects hervorragend in die unauffällige Szenerie einfügen, gelingt es sowohl Jeff Nichols‘ Stammkameramann Adam Stone, als auch Komponist David Wingo («Die Wahlkämpferin»), für den perfekten Feinschliff zu sorgen. Der Score besteht zu weiten Teilen lediglich aus einer unauffälligen Abfolge verschiedener Piano-Klänge, doch diese minimalistischen Klangfolgen, gepaart mit der elektrisierenden, zumeist sehr dunklen und lediglich in den Close-Up ein wenig zu unruhigen Bildsprache, ergeben eine Atmosphäre atemloser Spannung. Damit unterstreicht nicht nur Jeff Nichols seine Vita als Regisseur mit ganz eigener, genreübergreifender Handschrift, sondern ergänzt unsere Reihe kleiner, fast schon zurückhaltender Sci-Fi-Produktionen um einen hervorragenden Vertreter seiner Art.
«Midnight Special» ist auf DVD und Blu-ray erhältlich. Darüber hinaus kann er via Amazon, Wuaki, Videobuster, Videociety, SONY, Chieli, und Google Play gestreamt werden.
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