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Den besten Film aller Zeiten gibt es nicht

Die wohl verhassteste Frage unter Filmkritikern: Was ist der beste Film aller Zeiten? Die Antwort unseres Kolumnisten: Es sind mindestens Hunderte.

Wenn ich erzähle, dass ich von Berufs wegen Filme rezensiere, wird mir im Laufe des Gesprächs nicht selten eine Frage gestellt, die ich hasse: die nach dem besten Film aller Zeiten.

Ich bin dann meistens zu höflich, um zu antworten, dass ich mir schwer tue, die über hundertjährige Geschichte einer Kunstform qualitativ in einem einzigen Werk kulminieren zu lassen, ich jedoch diese Frage in jedem Fall auf der Liste der bescheuertsten Fragen aller Zeiten sehr weit oben ansiedeln würde.

Ich verweise dann meistens auf die gängigen langweiligen Antworten: Orson Welles‘ «Citizen Kane», sagt man, Yasujiro Ozus «Tokyo Story», Vittorio de Sicas «Fahrraddiebe». Aha, schön schön.

Seltsamerweise wird von Literaturkritikern selten gefordert, das beste Buch der Weltgeschichte zu nennen. Wohl weil so ziemlich jedem, der das Alphabet halbwegs unfallfrei beherrscht, klar ist, wie irrwitzig das wäre: vom Epos von Gilgamesh bis zu Charlotte Roches „Feuchtgebieten“, von Chaucers „Canterbury Tales“ bis zu Handkes „Publikumsbeschimpfung“, von „On the Origin of Species“ bis zu „Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern“.

Hilfreicher sind da schon all die Versuche der Kanonisierung, wenn auch freilich allein wegen der schieren Menge komplexer und nicht zwischen Cocktailbar und Stehtisch besprechbar. Sogar Reich-Ranicki hat versucht, die deutsche Literatur auf das Wesentliche - “den Kanon“ - zu reduzieren, und es dabei sogar geschafft, sich bei der belletristischen Langform auf zwanzig Romane zu beschränken. Wobei das freilich das größte Einfallstor für Kritik an der Selektion ist: Warum Bernhards aggressives „Holzfällen“ und nicht etwa seine feinsinnigere, düsterere, intellektuell spitzere „Verstörung“? Warum von Doderers „Strudlhofstiege“ und nicht Brinkmanns „Keiner weiß mehr“? Warum zweimal Thomas Mann und nur einmal Heinrich?

Man könnte stundenlang diskutieren. Ach was, man könnte ganze Talk-Shows damit füllen. Denn ein Kanon leistet etwas, was die infantile Frage nach dem besten Film überhaupt nicht im Ansatz zustande bringt: Er ist eine Diskussionsgrundlage, ein Anreiz für lange, sinnige, unterhaltende und spannende Gespräche und kein pseudo-spitzer Smalltalk-Leerlauf.

Die Filmwelt kennt mehrere Listen, die die besten Filme in einer Übersicht zusammenstellen wollen: jene besonders renommierte von „Time“, entstanden auf der Basis der Expertise renommierter Filmkritiker, oder das bekannte Ranking der IMDB auf Basis von Peer-Review-Bewertungen engagierter Cineasten.

Wie der Roman im 18. Jahrhundert lebte auch die Fernsehserie als künstlerische, unterhaltende Erzählform lange Zeit in einem Schmuddeldasein, im Schatten einer vermeintlich größeren Kunstform (dem Kino), und als Resteverwertung für Personal und Ressourcen, das auf der großen Leinwand ausgedient hatte. Das Golden Age of Television war nicht nur ein kreativer Durchbruch des Mediums, sondern auch ein Durchbruch in seiner Rezeption. Serien sind nicht mehr als infantile Bespaßung der Unterschicht verschrien, sondern als narrativ mitunter hochkomplexes Gefüge, das auch eine entsprechende Wertschätzung erfährt.

Was wiederum zur bescheuerten Frage führt, was nun die beste Serie aller Zeiten ist.

Eine Frage, die die renommierten amerikanischen Fernsehkritiker Alan Sepinwall und Matt Zoller Seitz kurz und ein bisschen lapidar mit den «Simpsons» beantworten. Doch diese Antwort ist nur der Ausgangspunkt für ihren Kanon, in dem sie bekannte wie völlig obskure amerikanische Serienproduktionen zusammengetragen haben. Titel des Werks: „TV (The Book)“

Ungeachtet dessen, dass wir Fernsehkritiker nun eine Default-Antwort auf die Frage nach der besten Serie haben, liefert dieses Buch, was eigentlich die primäre Aufgabe jedes Kanons oder jeder Liste mit den hundert oder tausend besten Filmen, Büchern oder Serien ist: einen Anstoß zur Entdeckung verborgener oder obskurer Schätze und eine Möglichkeit zur Wiederentdeckung bereits bekannter Stoffe. Ob Belletristik, Film oder Serie: Es ist gerade die Vielfalt an narrativen Möglichkeiten, die Versatilität und die stilistische Reichhaltigkeit, die diese Kunstformen auszeichnen. Sie auf einen besten Film, ein bestes Buch oder eine beste Serie zu reduzieren, ist nicht nur inhaltlich unerfüllbar – es negiert das, was den eigentlichen Reiz an ihnen als Erzählformen ausmacht.

Und wenn man Sie jemals nach dem besten Buch, dem besten Film und dem besten Gericht fragt, liefert Ihnen Manjula Nahasapeemapetilon von den «Simpsons» gleich noch eine schlagfertige Antwort. Antworten Sie einfach: «Grüne Tomaten».
09.09.2016 14:49 Uhr Kurz-URL: qmde.de/88008
Julian Miller

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Tags

360 Grad Citizen Kane Fahrraddiebe Grüne Tomaten Simpsons Tokyo Story

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Es gibt 8 Kommentare zum Artikel
logan99
09.09.2016 20:05 Uhr 6

Wie kommst du zu der Annahme, dass auf IMDb bevorzugt eine bestimmte Userschaft bewerten darf? Es steht doch jedem dort frei, eine Wertung abzugeben!?
Sentinel2003
09.09.2016 22:46 Uhr 7
Ja, loga, aber, es wurde schon öfter erwähnt, auch auf anderen Seiten, wie den Serrienjunkies, das auf der imdb meisst Männer zw. 20 und 30 dort Bewertungen abgeben.
logan99
09.09.2016 22:57 Uhr 8

Mag sein, das ist aber jetzt nichts unübliches und dafür kann IMDb auch nichts - da darf wie gesagt jedes Mitglied werten, egal ob Männlein, Weiblein, Jung oder Alt.
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