Die glorreichen 6: Eine filmische Weltreise (Teil IV)
Sommerzeit, Reisezeit. Wir stellen sechs Filmmärkte anhand je eines Beispielfilms vor. Heute: «Die Haut, in der ich wohne» aus Spanien.
Der Filmmarkt
Filmfacts: «Die Haut, in der ich wohne»
Regie: Pedro Almodóvar
Drehbuch: Agustín Almodóvar, Pedro Almodóvar
Produktion: Agustín Almodóvar, Esther García
Darsteller: Antonio Banderas, Elena Anaya, Marisa Paredes, Jan Cornet, Roberto Álamo, Eduard Fernández, Susi Sánchez
Kamera: José Luis Alcaine
Musik: Alberto Iglesias
Schnitt: José Salcedo
Herkunftsland: Spanien
Erscheinungsjahr: 2011
International insgesamt 65 mal für diverse Filmpreise nominiert, darunter der Golden Globe und 16 Nominierungen für den "spanischen Oscar" Goya
Hierzulande bekommt man vom spanischen Kino verhältnismäßig wenig mit. Das liegt vor allem daran, dass für den Mainstream produzierte Filme unserer südlich gelegenen EU-Kollegen vergleichsweise selten über Landesgrenzen hinaus vermarktet werden und Einheimische, ähnlich wie bei uns, vorzugsweise Produktionen aus Hollywood in den Kinos sehen. Die Liste der aktuell erfolgreichsten Filme des laufenden Kinojahres, liest sich nahezu identisch zu der in heimischen Gefilden. Trotzdem haben sich gerade im Arthouse-Bereich einige namhafte Regisseure als Zugpferde des spanischen (Kunst-)Kinos etabliert, die regelmäßig bei internationalen Filmfestivals ausgezeichnet werden. Dazu gehören Luis Buñuel («Ein andalusischer Hund»), Carlos Saura («Züchte Raben...»), Fernando Trueba («Belle Époque - Saison der Liebe»), Alejandro Amenábar («Das Meer in mir»), Juan Antonio Bardem («Die Rache») und Pedro Almodóvar, von dem wir in dieser Ausgabe der "Glorreichen 6" auch einen Film vorstellen wollen.
Insbesondere im Horrorkino haben sich in den vergangenen Jahren einige Werke hervorgetan, die von Kennern zeitweise gar als eigener Trend im Sektor betrachtet wurden. Filme wie «Das Waisenhaus», «REC», «Julia's Eyes» oder auch «Das Rückgrat des Teufels» prägten das Genre zum Ende der Nullerjahre maßgeblich; erst im vergangenen Jahr legte «The Others»-Regisseur Alejandro Amenábar mit «Regression» einen starken Vertreter des südeuropäischen Gruselkinos nach.
Sowohl bei prestigeträchtigen Filmfestivals wie Cannes oder Venedig, als auch beim wichtigsten Filmaward der Welt, dem Oscar, werden spanische Produktionen immer wieder ausgezeichnet. Nach Italien und Frankreich ist Spanien das Land mit den meisten Siegen in der Kategorie "Beste fremdsprachiger Film" und konnte seit dem Jahr 1957 viermal den begehrten Goldjungen für sich verbuchen. Bei den Preisträgern handelt es sich um «Volver A Empezar» aus dem Jahre 1983 von José Luis Garci, «Belle Époque» von Fernando Trueba (1994), «Alles über meine Mutter» von Pedro Almodóvar im Jahre 2000 sowie «Das Meer in mir» von Alejandro Amenábar 2005.
Die Handlung
Der spanische Professor Robert Ledgard (Antonio Banderas) ist Chirurg in der spanischen Kleinstadt Toledo im Jahre 2012. Nach dem Unfalltod seiner Frau Gal, die durch einen Großbrand entstellt wurde und sich in Verzweiflung über ihren Zustand das Leben nahm, ist er besessen von der Idee, eine neue robustere Haut für die Menschen zu züchten. Obwohl er es gegenüber seinen Chirurgenkollegen leugnet, ist Ledgard in seiner Testphase bereits weit über die Versuche an Tieren hinaus und beherbergt in seiner großen Villa eine geheimnisvolle Frau namens Vera (Elena Anaya), die allem Anschein nach als lebendes Testobjekt gehalten wird. Unter ihrem Ganzkörperanzug trägt sie ebenjene neuartige Haut, die ihr in einem schmerzhaften Verfahren Schicht für Schicht transplantiert wird. Immer in Angst um ihre Haut und ihre Person gestattet Robert es Vera nicht, ihr Zimmer zu verlassen und beobachtet sie tagein, tagaus über Monitore. Doch nach einem Selbstmordversuch Veras wird nicht nur Ledgards Haushälterin Marilia (Marisa Peredes), die Vera so gut wie nie zu Gesicht bekommt, hellhörig: Wer ist die geheimnisvolle Frau, die keine Vergangenheit zu haben scheint und Roberts verstorbener Ehefrau so unheimlich ähnlich sieht? In Rückblenden wird klar: Vera Cruz ist mehr, als nur ein menschliches Versuchsobjekt für Robert Ledgards perverse Forschungen. Sie ist sein Eigen. Seine Erfindung. Sein Heiligtum.
Die 6 glorreichen Aspekte von «Die Haut, in der ich wohne»
Pedro Almodóvar ist mit seinem ersten Genre-Werk aus dem Jahre 2011 eine beunruhigende Charakterstudie über einen Chirurgen gelungen, der – besessen von einer Idee, die ihren Ursprung in der totalen Verzweiflung findet – konsequent sein sich selbst gestecktes Ziel verfolgt, ohne sich dabei um die Grenzen der Legalität zu scheren. Alles beginnt mit dem versuchten Selbstmord der geheimnisvollen Vera. Beunruhigend nüchtern und doch äußerst intensiv von Elena Anaya («Lucia und der Sex», «Van Helsing») gespielt, bringt sie ohne viel Effekthascherei, dafür umso eindringlicher ihre Verzweiflung über ihr seltsames Dasein zum Ausdruck. Zierlich, fast schon hager erscheint Vera, die zu Beginn kaum spricht, aber mithilfe von punktgenauem Mienenspiel und wohl gewählten Sprachfetzen schnell zu einer Figur wird, die gleichermaßen bemitleidenswert wie tough anmutet. In ihrer Gefangenschaft einzugehen, scheint sie nicht. Stattdessen verkörpert sie eine starke Frauenfigur, die den Selbstmord lediglich als Anklage gegen ihren Peiniger nutzt, um damit vor allem Gefangene ihrer selbst zu sein und weniger eine Gefangene Ledgards. Dieser ist in seinem Auftreten sowohl konsequent als auch ungeheuer zerbrechlich und vermittelt kaum das Bild des skrupellosen Entführers – zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, zu dem der Zuschauer sich über die Herkunft Veras noch nicht im Klaren ist.
Da «Die Haut, in der ich wohne» das gern genommene „Aufklärung durch Rückblenden“-Schema verfolgt, ändert sich die Grundstimmung besonders im Hinblick auf den immer mehr zum Antagonisten aufgebauten Chirurgen Ledgard konsequent. So könnte man fast meinen, ab etwa der Hälfte des Films fände ein Genrewechsel statt: Die durch und durch tragische Geschichte um die ominöse Existenz Veras wird im Verlauf der Handlung zu einer fast altmodischen Horrormär aus Zeiten der Hammer-Gruselfilme. Auf der einen Seite der verrückte Wissenschaftler, der sich eine Gestalt baut, wie einst Frankenstein sein Monster. Auf der anderen Seite eben jenes Wesen, das im wahrsten Sinne des Wortes nicht aus seiner Haut kann und sich fragen muss, was besser ist: sich dem Schicksal ergeben und das Beste daraus machen, oder eine Revolte gegen jenen Mann starten, der sie in diese Lage brachte? Durch diese Fragestellung richtet sich die spanische Charakterstudie in vielen Momenten direkt an den Zuschauer, der sich früher oder später mit der Frage konfrontiert sieht, was er eigentlich an Stelle Veras tun würde.
Almodóvars Ziel ist es nicht, Beklemmung durch Enge zu erzeugen. Die Kulissen sind weit und die Villa ausschließlich in hellen Tönen gehalten. Dies legt den Fokus auf das Gefängnis, in welchem sich Vera wirklich befindet: die Haut, in der sie wohnt. Und aus ihrer Haut zu fahren, ist der Gefangenen, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht möglich. Während die Rückblenden sich zum Großteil an verschiedenen Orten außerhalb des Gebäudes abspielen und die Vergangenheit der Figuren beleuchten, spielt das Jetzt fast ausschließlich innerhalb dieser weißen vier Wänden von Lerdgards Villa. Nie sind mehr als drei Personen auf einmal in einer Szenerie zu sehen und trotz der allgegenwärtigen Spannung scheint es nie hektisch zuzugehen. Selbst eine Art Verfolgungsjagd besitzt durch die farblosen, fast hypnotischen Bilder immer eine ungeheure Ästhetik und innere Ruhe. Die Szenerie wirkt wie betäubt – eine weitere Parallele zum medizinischen Kontext, der sich wie ein roter Faden durch die zwei Stunden Laufzeit zieht. Dabei verzichtet der extravagante Regisseur auf schnelle Schnitte, auffällige Musik sowie verwirrende Licht- oder Farbspiele.
Wie es für Pedro Almodóvars Filme üblich ist, kann auch «Die Haut, in der ich wohne» wieder mit einem unheimlich intensiven wie spannenden Twist aufwarten, der den Zuschauer mit einem unwohlen Gefühl in der Magengegend aus dem Film entlässt. Im Grunde genommen ist der gesamte Streifen ein einziger Twist – verwoben in eine Geschichte, die aus zwei parallelen Sichtweisen erzählt zu einem großen, unheimlichen, aber faszinierendem Ganzen wird. Und erst von Weitem betrachtet kann der Zuschauer beginnen, die einzelnen Puzzlestücke zusammenzusetzen, um zu begreifen, was in den letzten zwei Stunden wirklich passiert ist.
«Die Haut, in der ich wohne» ist auf DVD und Blu-ray Disc erhältlich, sowie bei Amazon Prime, Maxdome, iTunes, Google Play, Videobuster, Videoload, Sony, Sky Online und Sky Go streambar.
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