„Werden einige Klischees bestätigen - weil es tatsächlich so ist“, gesteht uns die Executive Producerin vor dem RTL II-Start der neuen Hartz-IV-Primetime-Doku.
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Die Idee zum Format kam anlässlich des zehnten Geburtstages von Hartz IV. Wir wollten wissen, wie die Menschen damit leben, deren Alltag das ist
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Good Times Executive Producerin Adriana Puglisi
Mehr als zwölf Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut bedroht, mehr als vier Millionen leben von der Grundsicherung Hartz IV. Nach der umstritteneren Sozial-Dokumentation «Hartz und herzlich» über die Bewohner einer sozialschwachen Duisburger Siedlung, scheint RTL II Gefallen an dieser Programmfarbe gefunden zu haben und sendet ab diesem Samstag die zweiteilige Hartz-IV-Langzeitdokumentation «Armes Deutschland - Stempeln oder abrackern?». Quotenmeter.de sprach vor der Ausstrahlung exklusiv mit der Executive Producerin Adriana Puglisi, die verrät: „Die Idee zum Format kam anlässlich des zehnten Geburtstages von Hartz IV. Wir wollten wissen, wie die Menschen damit leben, deren Alltag das ist.“
RTL-II-Docutainment-Chef Stefan Albrecht hofft nach der Duisburger Doku den Nerv der Zuschauer zu treffen, wie der 48-Jährige gegenüber Quotenmeter.de erläutert: „«Hartz und herzlich» hat sich durch seine Relevanz, Authentizität und Echtheit behaupten können. «Armes Deutschland» ist von gleicher Couleur. Wir würden uns sehr freuen, wenn wir auch in Zukunft mit authentisch erzählter Relevanz am Samstag überzeugen können. Dadurch, dass wir gerade bei diesen Langzeit-Dokumentationen sehr viel Wert auf Behutsamkeit legen und unseren Produzenten die notwendige Zeit für die Herstellung geben, werden wir nur punktuell auf diese Farbe setzen. Und natürlich müssen wir auch beobachten, ob sie schlussendlich funktioniert.“
Mitbewerber VOX bespielt den Samstagabend schon seit längerem erfolgreich mit Dokumentationen. RTL II will am 9. und 16. Juli Paroli bieten und jeweils ab 20.15 Uhr die plakative Frage stellen, ob sich Arbeiten in Deutschland noch lohne. Auf der Suche nach Antworten, begleitete die Kölner Produktionsfirma Good Times TV über ein Jahr lang Menschen, die von Sozialleistungen abhängig sind oder kurz davor stehen. Das TV-Langzeitprojekt musste ohne Drehpläne auskommen, da Entscheidungen des Jobcenters oder potenzielle Jobangebote in Echtzeit gefilmt werden mussten. Von der Recherche, über den Dreh, bis hin zur Ausstrahlung ist über ein Jahr vergangen. In der schnelllebigen Fernsehwelt keine Selbstverständlichkeit. „Ich saß manchmal in der Redaktion und dachte: Oh Mann, wann geht das endlich weiter?“, berichtet Adriana Puglisi im Gespräch mit uns.
„In «Armes Deutschland» zeigen wir acht sehr individuelle Geschichten: Vier Jobverweigerer, vier harte Arbeiter, die wir jeweils gegenüberstellen und so abwechslungsreiche und packende Gegensätze erzählen,“ verrät Stefan Albrecht. Dabei sei der Sendeplatz kein Zufall: „Wir zeigen ganz unterschiedliche Antworten auf die Frage: Lohnt sich Arbeit in Deutschland noch? Und genau diese Unterschiede zwischen den authentisch und sehr behutsam gedrehten Konstellationen gewährleisten, dass wir damit zwei Stunden erzählen können. Die Geschichten haben aufgrund ihrer unverblümten Echtheit eine Kraft, der man sich – ich zumindest – schwer entziehen kann. Wir sind überzeugt davon, dass sich diese Kraft deutlich besser über zwei Stunden entfalten kann. Erst dadurch können wir den Slot-Gesetzen der Samstags-Primetime entsprechen, wo sich diese Länge bewährt hat und vom Zuschauer gelernt ist.“
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Als wir Arno Dübel angefragt haben, hörte ich, dass das über einen Manager lief. Als der Begriff Manager fiel, wusste ich: Nein, das ist nicht das, wonach wir suchen. Beim Manager war von Gagen die Rege, nicht mehr von Aufwandsentschädigungen.
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Executive Producerin Adriana Puglisi von Good Times
Bundesweit lag der Anteil der Hartz-IV-Empfänger zuletzt bei 7,7 Prozent. Dennoch war das Casting die erste große Herausforderung, wie sich die Executive Producerin erinnert: „Es war schwierig, Leute zu finden, die vor laufender Kamera sagen, Arbeiten lohnt sich nicht! Das öffentlich zu sagen, ist mutig.“ Zu solchem kontroversen TV-Ruhm schaffte es bereits Arno Dübel. Der selbst ernannte „frechste Arbeitslose Deutschlands“ war jahrelang ein „dankbarer“ Protagonist für die Medien und in fast jeder Talkshow ein gern gesehener Gast. „Als wir Arno Dübel angefragt haben, hörte ich, dass das über einen Manager lief. Als der Begriff Manager fiel, wusste ich: Nein, das ist nicht das, wonach wir suchen. Beim Manager war von Gagen die Rege, nicht mehr von Aufwandsentschädigungen. Wir hatten das Gefühl, er möchte nicht wirklich seine Meinung zu dem Thema kundtun, sondern eher bestmöglich Kohle rausschlagen. Wir wollten aber echte Geschichten aus dem Leben rund um Hartz IV erzählen, ohne ein prominentes Gesicht“, erklärt die Executive Producerin in Köln. Zwar hätten alle Protagonisten eine branchenübliche Aufwandsentschädigung für die Drehtage erhalten, am Ende des Monats wurden diese aber sowieso mit deren Hartz-IV-Bezügen verrechnet.
„Man denkt sofort an den rauchenden Hartz-IV-Empfänger“
Das Format verzichtet auf jegliche Coaching-Elemente und bildet stattdessen das Leben der begleiteten Menschen als zweiteilige Dokumentation ab. „Viele Bilder, die man im Kopf hat, sind sicherlich durch die Medien geprägt“, gibt Adriana Puglisi offen zu. „Man denkt sofort an den rauchenden Hartz-IV-Empfänger, der in einer unaufgeräumten Wohnung auf der Coach sitzt. Das werden wir in dieser Sendung teilweise auch bestätigen – weil es tatsächlich so ist“, muss die Executive Producerin lachend eingestehen: „Das ist einfach der Punkt. Ich habe teilweise auch gedacht: Ach, willkommen in der Realität! Die Leute wussten ja, dass das Fernsehen kommt. Ich habe aber festgestellt, dass trotzdem keiner für uns aufräumt. Das ist so! Um ein bisschen von diesem Bild wegzukommen, zeigen wir aber auch die Leute, die sagen: Ich will hier raus! - Die tun dafür auch alles Mögliche.“
Tatsächlich scheint in der Dokumentation kein Klischee ausgelassen worden zu sein - wenn auch ungewollt. Dies wird mit Blick auf die Inhaltsangabe einer Folge schnell deutlich: Der 22-Jährige Markus und die 24-Jährige Jessica werden in deren Hartz-IV-Alltag mit der Kamera begleitet. Jessica ist zum zweiten Mal schwanger und kümmert sich um den dreijährigen Sohn Jerome. Wie man an Geld komme, ohne zu arbeiten, wisse Markus laut RTL II ganz genau, es gäbe ja das Amt. Er kenne alle Tricks, um das Jobcenter hinter das Licht zu führen und zögere laut Sender „auch keine Sekunde, es zu tun“. Klischee erfüllt.
Begriff Unterschichtenfernsehen ist Deklassierung
Die ewige Kritik am deutschen Fernsehen lässt die Executive Producerin aber nicht gelten und glaubt: „Hartz IV kann auch ein Vorbild sein, das wollen wir genauso zeigen,“ so die TV-Redakteurin, die zuvor bereits Dokumentationen für das ZDF drehte und im vergangenem Jahr in das Team von «Mein Lokal Dein Lokal - Spezial» wechselte. Die Kölner Produktionsfirma Good Times TV ist sonst im Segment der Unterhaltungsformate zu Hause und produziert unter anderem Formate wie «Der Trödeltrupp».
„Der Begriff Unterschichtenfernsehen ist eine Deklassierung von ganz vielen Menschen. Was sollen wir denn sonst zeigen? Sollen wir Lebenswirklichkeiten in Deutschland zeigen, die geschönt sind? Man darf nicht vergessen, dass das auch ein Teil von Deutschland ist“, kontert die Executive Producerin allen Kritikern. „Wenn wir Fernsehmacher umschwenken würden und nur noch Heile-Welt-Fernsehen machen, heißt es doch auch, man beschäftige sich nur mit Luxusproblemen“, rechtfertigt sich Adriana Puglisi. Fakt ist, dass das Drehverhältnis durch die Langzeitbeobachtung der Protagonisten hoch ist – erst recht aus Sicht der unter Kostendruck stehenden Privatsender. „Quick-and-Dirty“-Fernsehen sieht anders aus.
„Bei uns ist alles echt“, versichert die Executive Producerin in Anspielung auf den «Schwiegertochter gesucht»-Skandal. „Wahrscheinlich wird es nach der Ausstrahlung bei uns auch heißen: Das kann nicht echt sein! Das haben die gefakt oder das wurde zusammengeschnitten,“ befürchtet die Macherin und verspricht: „Das ist aber absolut nicht so.“ Anders als vor dem Dreh geplant, hat sich die Produktionsfirma im Schnitt entschlossen, die Fragen der Redakteure an die Protagonisten im Off nicht generell herauszuschneiden. „Vielleicht ist es auch ein bisschen Selbstschutz. Die Leute haben teilweise so extreme Sachen rausgehauen, die uns sonst keiner abkaufen würde,“ gesteht die junge Fernsehmacherin angesichts der rauen Lügenpresse-Vorwürfe in Deutschland.
„Mitgefühl ist nicht aufgekommen“
Bedenken, dass ein potenzieller Chef die mitunter unkonventionellen Aussagen der begleiteten Arbeitslosen im Fernsehen sehen könnte, sei trotz der Macht der Bilder und der damit verbundenen Verantwortung gegenüber den Protagonisten kein Thema, zeigt sich Adriana Puglisi desillusioniert. „Das ist ja keine Momentaufnahme, das ist deren gefestigte Lebenseinstellung.“ Dabei hielt das Kamerateam auch in heiklen Situationen drauf, wie beispielsweise bei einer Zwangsräumung, was in der Dokumentation ebenfalls zur Lebenswirklichkeit gehöre. „Natürlich denkt man: Krass, jetzt bist Du bei dieser Zwangsräumung dabei! Es klingt hart, aber man weiß zu diesem Zeitpunkt auch, dass das nicht ohne Grund passiert ist. Mitgefühl ist nicht aufgekommen“, gesteht die Fernsehmacherin, die mit vor Ort drehte und Medienwirtschaft sowie Journalismus studierte.
Da die Dokumentation in der Primetime bei RTL II ausgestrahlt wird, veränderten sich auch die Produktionsabläufe, erzählt die Executive Producerin: „Das neue Format wird unserer Firma eine ganz neue Note verleihen. Wir haben immer gesagt, wenn wir das alles selbst verstehen, versteht das auch der Zuschauer. Ich habe das erste Mal selbst einen Hartz-IV-Antrag gesehen und gemerkt, wie kompliziert das ist. Wir machen die Sendung nicht für arte, wir machen das fürs Privatfernsehen. Da muss man die komplizierten Sachverhalte verständlich runterbrechen.“
„Wir wollen niemanden bekehren“
Am Ende steht die Frage, ob sich Arbeiten in Deutschland denn nun lohnen würde. Für Adriana Puglisi eine rhetorische Frage: „Meine persönliche Meinung: Ja, absolut! Ich habe großen Respekt vor Menschen, die täglich hart arbeiten und am Ende trotzdem unter der Armutsgrenze leben. Bei anderen Protagonisten habe ich während der Drehs teilweise auch Missverständnis und Wut gespürt.“
Die Zuschauer müssen ihre eigene Meinung selbst bilden. Im Off-Text werden keine Wertungen zu hören sein, wie die Executive Producerin erklärt: „Wir wollen niemanden bekehren und sagen: Seht Ihr, arbeiten lohnt sich! Wir wollen keinen Zeigefinder, wir bilden nur die Realität ab. Ich glaube, dass die sogenannten „Sozialschmarotzer“ für Unverständnis bei den Zuschauern sorgen werden. So war es zumindest bei uns intern. Aber es wird sicher auch Zuschauer geben, die nicht nachvollziehen können, warum eine alleinerziehende Mutter sich mit mehreren Jobs kaputt arbeitet, um unter Mindestlohnbedingungen für die Familie zu sorgen.“
„It´s fun“ war gestern, „zeig mir mehr“ ist seit Frühjahr der neue Claim von RTL II. Die Senderverantwortlichen scheinen das angesichts der ernsten Hartz-IV-Thematik wörtlich genommen zu haben und zeigen die «Trödeltrupp»-Macher von einer nachdenklicheren Seite. „Ich würde das System Hartz IV nicht generell als schlecht abstempeln. Aber klar, es gibt auch Lücken“, bilanziert die Executive Producerin.
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