Die britischen Sender mussten in der Brexit-Nacht viele Stunden ihres Programms mit allerhand Spekulationen füllen. Unjournalistisch? Keineswegs. Ein Kommentar.
Was passiert, wenn nichts passiert? Eine Frage, die für die britischen
Broadcaster gestern Nacht entscheidende Bedeutung hatte.
Klar war, dass ihre Berichterstattung über das Austrittsreferendum spätestens mit Big Bens Glockenschlag um zehn Uhr und der damit eingeläuteten Schließung der Wahllokale beginnen musste. Nicht nur aus traditionellen Gründen, sondern allein schon wegen des schier unermesslichen Informationsbedürfnisses der Öffentlichkeit.
Allein: Allen war klar, dass es lange nichts zu vermelden geben würde.
Exit Polls wie bei Unterhauswahlen (oder deutschen Bundestagswahlen), aus denen sich zuverlässige Prognosen und Hochrechnungen ableiten lassen, waren bei diesem Wahlmodus wegen mangelnder Vergleichsgrößen nicht durchführbar. Lediglich Sky News verkündete die Ergebnisse einer Wahltagsbefragung des Meinungsforschungsinstituts YouGov – die, mittlerweile wissen wir es, natürlich völlig falsch war.
Bis die Auszählungen in den ersten Abstimmungsbezirken abgeschlossen waren und tatsächliche Ergebnisse vorlagen, aus denen sich zumindest mit etwas gutem Willen erste Trends ableiten ließen, vergingen erwartungsgemäß Stunden. Wie also die füllen?
Die Antwort von BBC One und Sky News: Spekulationen, Spekulationen! Ein stundenlanges „Was wäre wenn“ und „Was wäre wenn nicht“, ellenlange Analysen der weitgehend aussagelosen ersten Wahlergebnisse aus Gibraltar und den dünn besiedelten Orkney-Inseln, und die ausladende Einordnung einer weiteren der zahllosen unprofessionellen Attitüden von Nigel Farage, der eigentlich schon zu Beginn der Nacht das Handtuch geworfen hatte. Dabei unentbehrlich: ständige, aber gleichzeitig völlig austauschbare Live-Schalten in (zumindest gefühlt) Dutzende Auszählungshallen im ganzen Vereinigten Königreich.
In Deutschland lehnen gerade öffentlich-rechtliche Sender Spekulationen gerne ab, als etwas vermeintlich Unjournalistisches, als Geschwätz, als leeres Gerede. Hätten die britischen Broadcaster also gestern Abend lieber die ersten zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale weiter alte Serien abnudeln sollen?
Natürlich nicht. Denn auch Spekulationen – sofern sie fundiert, plausibel begründet und verständlich erklärt werden – sind gerade bei solch volatilen Ereignissen kein leeres Gerede, sondern eine erste Stütze. Und davon brauch man in einer Nacht, in der sich auf viele Jahre das Schicksal Europas und eines seiner größten Mitglieder entscheidet, jede, die man kriegen kann. Vor allem, wenn am frühen Morgen angesichts der Ergebnisse (nicht nur beim Verfasser dieser Zeilen) die Fassungslosigkeit aufkommt und
junge britische Journalisten herzzerreißende Kommentare schreiben.
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25.06.2016 16:24 Uhr 1