Ob klassische Casting-Shows, das recht neuartige Eliten-Projekt «Sing meinen Song» oder der alljährliche «ESC»: Von ihrer Präsenz in Musikshows erhoffen sich Künstler stets einen kommerziellen Schub. Zum Start von «Musicshake» wagen wir einen Blick auf die deutschen Verkaufscharts - in denen es zuletzt vor allem einem Format geglückt ist, über viele Wochen hinweg präsent zu sein.
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Infos zu den deutschen Musikcharts
- werden wöchentlich von der GfK Entertainment erhoben (seit 2013, zuvor Media Control)
- veröffentlicht wird sowohl bei den Singles als auch bei den Alben die wöchentliche Top 100
- seit 2007 steht nicht mehr zwingend das meistverkaufte Lied oder Album an der Spitze, sondern jenes, das in der Chartwoche (immer freitags bis donnerstags) den höchsten Umsatz generierte
- seit 2014 gehen neben Plattenverkäufen und Downloads auch Streaming-Abrufe in die Wertung der Single-Charts ein - allerdings nur bei zahlenden Kunden
Beamen wir uns einmal knapp 15 Jahre zurück in eine Musikwelt, die gerade mit den No Angels ihre erste große deutsche Casting-Band hervorgebracht hat und in der Alexander Klaws gerade drauf und dran ist, der erste Gewinner von «Deutschland sucht den Superstar» zu werden. Die Branche hat zwar bereits mit klar rückläufigen Absatzzahlen zu kämpfen, doch sie befinden sich noch auf einem Niveau, bei dem man sich sicher sein kann, im Falle eines großen Hits gewiss nicht am Hungertuch nagen zu müssen. Fernsehdeutschland ist noch weitgehend unerfahren mit dem Vermarktungpotenzial seiner TV-Shows und konzentriert sich bei seiner Promotion hauptsächlich darauf, die Gewinner-Acts erfolgreich auf dem Markt zu positionieren - was sowohl bei den No Angels als auch bei Klaws angesichts mehrwöchiger Nummer-Eins-Platzierungen für die Debütsingles auch hervorragend gelingt.
Was die hier beschriebenen Zeiten von jenen im Jahr 2016 unterscheiden? Nunja, so einiges. Durch legale wie illegale Download-Portale ebenso wie durch Streaming-Angebote wie Spotify ist eine Platzierung an der Spitze der Single-Charts längst nicht mehr zu vergleichen mit jenem silbernen Zeitalter der frühen 2000er - mal ganz zu schweigen von der Zeit vor der Jahrtausendwende. Deutschland ist längst durchgecastet, «DSDS» selbst bei großzügiger Auslegung des Wortes kaum mehr ironiefrei als Musikshow zu bezeichnen und «Popstars» ist nach einem eher traurigen Comeback-Versuch in der alten Heimat RTL II längst verschwunden. Vor allem aber hat sich die PR-Grundausrichtung der Musikshows verschoben: Statt auf den immer öfter ausbleibenden großen Push am Ende einer Staffel zu setzen, versucht man lieber dahingegend von der wöchentlichen Ausstrahlung zu profitieren, dass man seinem Publikum über Wochen hinweg musikalische Kaufangebote macht.
Paradebeispiel des wochenaktuellen Hypes: «Sing meinen Song»
Wie man die Verkaufszahlen wöchentlich am stärksten ankurbeln kann, macht seit gut zwei Jahren
«Sing meinen Song» mit einen sehr cleveren Konzept vor: Über sieben bis acht (wenn man die Duette hinzuzählt) Folgen hinweg wird hier einerseits formatintern neue Musik vorgestellt, indem bekannte Künstler die Songs ihrer Kollegen covern und neu interpretieren. Andererseits sorgt die Fokussierung auf jeweils einen Künstler pro Show dafür, dass sich der Rezipient vor den Fernsehgeräten ein wenig ins Werk eines Musikers einhören kann und ihn unter Umständen ganz neu für sich entdeckt. So lässt sich Woche für Woche das nahezu gleiche Phänomen in den Download-Charts ausmachen: Die neuen Kreationen erfahren meist den größten Push bei den Singles, während Best-Ofs oder alternativ die neuesten Werke des "besungenen" Interpreten bei den Alben spürbaren Aufwind erfahren.
Es ist also gewiss kein Zufall, dass mit Wolfgang Niedecken und Seven gleich zwei Teilnehmer der dritten Staffel in diesen Wochen mit Best-Of-Zusammenstellungen aufwarten. Die Musiker wissen um die kommerzielle Relevanz ihrer wochenlangen Präsenz in der VOX-Sendung und versuchen nachvollziehbarerweise, daraus den höchstmöglichen Profit zu schlagen. Und das gelingt: Niedeckens BAP sind gerade erst in die Top Ten eingestiegen, Seven erreichte einen angesichts seines bis dato noch ausbleibenden Durchbruchs in der Bundesrepublik einen respektablen 14. Rang. Die volle Ladung wollte Gastgeber Xavier Naidoo abhaben und brachte sein Album "Nicht von dieser Welt 2" Anfang April unmittelbar vor Staffelstart heraus, Samy Deluxe im Umfeld der ihr gewidmeten Sendung - die gewiss nicht zur unbändigen Freude des Rappers ausgerechnet gegen das Champions-League-Halbfinalspiels des FC Bayern gezeigt wurde. Besser hatten es da schon The BossHoss und Nena, die jedoch in erster Linie ältere Werke zu vermarkten hatten - Alec Völkel und Sascha Vollmer durften sich dennoch über einen Re-Entry in die Top Ten freuen.
Doch auch bei den Profis von VOX läuft derzeit nicht alles komplett nach Plan: Die Compilation zur Show chartete unglücklicherweise in derselben Woche wie das neue Album von Udo Lindenberg und musste sich deshalb bislang mit dem zweiten Rang begnügen - ein kleines Ärgernis im Hinblick auf die Presse, denn man würde mit Sicherheit lieber "«Sing meinen Song»-Album schafft Spitzen-Triple" vermelden, als den Medien Futter für eine negativ konnotierte "«Sing meinen Song» verpasst erstmals die Chartspitze"-Schlagzeile zu geben. Noch ist allerdings nicht aller Tage Abend, denn das Werk hält sich sehr konstant auf den Plätzen zwei und drei. Durchaus denkbar also, dass es in den kommenden zwei bis drei Wochen noch für die erhoffte Schlagzeile reichen wird.
Und auch hinsichtlich des Erfolgs in den Single-Charts liest sich die Bilanz in diesem Jahr doch etwas verhaltener als 2014 und 2015, als vor allem Xavier Naidoo mit "Amoi seg' ma uns wieder" und Wirtz mit seinem traumhaft schönen PUR-Cover "Wenn sie diesen Tango hört" jeweils nur knapp die Top Ten verpassten und einige Wochen oben mitspielten. Diesmal geht der Sendung diese eine Vorzeige-Coverversion bislang noch ab, weshalb sich viele Songs erst gar nicht und selbst die stärksten Titel im Bestfall nur für eine oder zwei Wochen auf den hintersten Positionen der Top 100 wiederfanden. Auch stellte sich der Versuch, durch einen zwischen den Covers platzierten Auftritt des "Stars der Woche" dessen neuestem Song einen wirklichen Topstart zu verleihen, als nicht übermäßig erfolgreich heraus: Das Höchste der Gefühle war Nenas (übrigens von Samy Deluxe produzierte) neue Single "Genau jetzt" mit Platz 27 - danach rutschte die Nummer allerdings schnell dramatisch ab.
«DSDS»: Nur der Sieger profitiert? Nein, vor allem die Jury
Bei RTL dürfte man vor rund zwei Wochen aufgeatmet haben, als die Verkaufszahlen für Prince Damien nach dem Finale von
«Deutschland sucht den Superstar» kurzzeitig durch die Decke schossen. Zwar war dessen "Glücksmoment" von relativ kurzer Dauer, dafür allerdings immerhin intensiv genug, um ihm am Ende der Woche den Platz an der Kommerz-Sonne zu bescheren - bevor er sich dann in Woche zwei schon mit dem sechstbesten Sonnenplätzchen zu begnügen hatte. Das ist keine Sensationsbilanz, wenn man bedenkt, dass in früheren Jahrgängen der Sieger auch schon mal über mehrere Wochen hinweg über allen anderen Songs thronte. Andererseits stellte sich nach dem desolaten Abschneiden von Severino Seeger im Vorjahr durchaus die Frage danach, wie relevant das Casting-Format eigentlich fernab der Einschaltquote und des Preisgeldes mit seiner auf wenige voraufgezeichnete Eventshows beschränkten Finalphase überhaupt noch ist. Und da kommt so eine Spitzenposition vor allem in der Außenwirkung schon ganz gut. Die weiteren Finalisten sind dagegen schon jetzt wieder quasi vergessen.
In gewisser Weise hat sich «DSDS» allerdings in den vergangenen Jahren auch von der Ausrichtung distanziert, Casting-typisch vor allem auf den großen Verkaufsknall nach Staffelende zu setzen. Dies bezieht sich aber weniger auf die Kandidaten, die weiter auf die PR-Maschinerie in Folge ihres eventuellen Sieges setzen müssen, als viel mehr auf die Jury-Mitglieder, die auch in Staffel 13 wieder ausschließlich aus Musikern bestanden - von Urgestein Dieter Bohlen einmal abgesehen. Vor allem das von Bohlen unterstützte Schlagersternchen Vanessa Mai nutzte ihre Präsenz ausgiebig, um die Verkäufe ihrer neuesten Solo-Werke anzukurbeln: Die Single "Ich sterb für dich" erreichte zwar nur Platz 35, hielt sich aber recht standhaft im Chart-Mittelmaß, ihr Album "Für dich" (übrigens in der Tat mit einem Catterfeld-Cover) hielt sich drei Wochen in den Top Ten. Für Michelle und Scooter lief es nicht ganz so gut, eine Top-Ten-Platzierung war für deren neueste Langspielplatte allerdings dann doch drin. Die Jury-Mitglieder versuchen also durchaus, aus ihrer monatelangen Primetime-Präsenz auch in der Hitparade Profit zu schlagen, womit sich hier durchaus Parallelen zu «Sing meinen Song» ziehen lassen.
Auf der nächsten Seite widmen wir uns der Frage, inwiefern die Coaches von «The Voice» oftmals stärker profitieren als ihre Schützlinge, wieso der «ESC» in diesem Jahr wohl keinen großen Charterfolg mehr landen wird - und wann das in den Vorjahren eigentlich nochmal großartig anders war.
Es gibt 4 Kommentare zum Artikel
27.05.2016 14:42 Uhr 2
Musik ist in erster Linie Kunst, und es kann doch nicht sein, dass der Gipfel der musikalischen Evolution der ist, in irgendwelchen Verkaufstabellen ganz oben zu landen? Am besten natürlich nach bestimmten Formeln, nach Erkenntnissen der Marktforschung? Wo bleibt denn da noch Platz für absolute künstlerische Freiheit? Denn die wird durch diese Vereinheitlichung und dieses "Das kann man doch nicht im Radio spielen!" bzw. "Wie soll sich das denn verkaufen?" doch komplett im Keim erstickt? Wer traut sich von den Etablierten denn etwas? Ist künstlerische Freiheit nur im Proberaum erlaubt bzw. ist sie im kommerziellen Sektor nur noch ein Privileg, das Megaseller besitzen? Doch selbst diese Generation ist nahezu ausgestorben (Jackson, Prince, Bowie) - und was haben wir danach? Welchen kommerziell extrem erfolgreichen Künstler oder welche kommerziell erfolgreiche Band haben wir denn heute noch? Ich meine solche, die sich alles erlauben können und dies auch tun?
Selbst Adele, die ich eigentlich nicht so sehr mag, war früher mal originell. Sie ist heute Megasellerin. Und wird immer austauschbarer. Da frage ich mich: Wo wird sie in zehn oder zwanzig Jahren sein? Wird da jemals etwas Mutiges kommen? Von ihr oder von irgendjemandem?
Und selbst wenn so etwas tatsächlich mal geschieht, dann wird es im Radio spöttisch kommentiert.
Noch nie war der kommerzielle Markt so im A*!$@, so blutarm, so identitätslos. Wo sind sie denn, die innovativen Künstler in TV und Radio? Und wenn, woher will man sie holen? Aus "Talentschmieden" im TV?
Für mich ist kommerzielle Musik anno 201x nur noch eine pervertierte Abart einer eigentlichen Kunstform. Nach Reißbrett, nach Kalkül.
Daher müsste man eigentlich fragen: Wie relevant sind Charts für die Musik als Kunstform?
27.05.2016 15:57 Uhr 3
Naja, deinen idealistischen und künstlerisch orientierten Ansatz in Ehren, aber das war schlicht und einfach nicht der Ansatzpunkt, auf dem mein Artikel fußt. Der war ja von vornherein kommerziell orientiert und sollte eher einen Überblick darüber geben, ob die Formate erfolgreiche Chart-Ware produzieren und wenn ja, ob sie ihre Produkte längerfristig positionieren oder sie nur den schnellen Hype schaffen, der nach wenigen Wochen oder inzwischen sogar oft Tagen wieder passe ist.
Du gehst da mit einer ganz anderen Ausgangsfrage heran - die auf jeden Fall auch interessant und diskutabel ist, meines Erachtens aber die in meinem Artikel gestellte Frage nicht obsolet machen. Wenn wir uns der Realität beugen, geht es dem deutschen Fernsehen natürlich primär NICHT darum, große, kreative Kunst zu erschaffen, sondern massentaugliche Musik, die leicht absetzbar ist. Ist sicherlich schade für den Musikfan, zumal da oft nur Luftblasen produziert werden, die nach dem ersten Hype schnell zerplatzen. Aber als "pervers" empfinde ich meine Frage nicht.
Bei Adele frage ich mich, wann sie denn mal wirklich originell gewesen sein soll? Ich meine, "Rolling In The Deep", "Someone Like You" etc. waren famose Pop-Produktionen und Adele ist eine hinreißend starke Sängerin, aber als besonders kreativ empfand ich auch diese Songs nicht. Und meines Erachtens gibt es durchaus noch immer kreative Ansätze auch in der Pop-Musik, wo ich beispielhaft mal Jack Garratt genannt haben möchte. Wanda und Bilderbuch aus Österreich bringen interessante Ansätze in die deutschsprachige Pop-Musik, viele nennen Drake im RnB-Bereich (was mich musikalisch null abholt, aber dem ich schon zugestehen muss, eine gewisse eigene DNA zu besitzen). In Deutschland habe ich in den vergangenen Jahren vornehmlich das Hip-Hop-Genre für mich wiederentdeckt, das es für mich derzeit hierzulande als quasi einziges Genre schafft, mit gesellschaftsrelevanten Inhalten erfolgreich zu sein. Da fielen mir als erste Beispiele OK Kid und das letzte Alligatoah-Album ein.
Also für mich ist nicht alles, was in diesen Zeiten kommerziell erfolgreich ist, strömlinienförmig und komplett nach Schema F und ich mag auch diese "früher war alles besser"-Rhetorik nicht hören. Dass vieles in den Top 100 ziemlicher Einheitsbrei ist... keine Frage.
Fohlen
24.05.2017 09:12 Uhr 4