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Le Jour de Gloire Est Arrivé

Die erste französische Netflix-Serie spielt im Polit-Milieu. Das weckt unweigerlich Assoziationen mit «House of Cards». Ein Kommentar.

Dass «House of Cards» ein weltweiter Hit werden würde, war nicht selbstverständlich. Vor allem wegen seines Milieus: dem hochkomplexen Politbetrieb in Washington.

Wer die bisherigen Staffeln und die konkreten Handlungsmotive von Frank Underwood wirklich im Detail verstehen wollte, musste nicht nur grob wissen, was in der amerikanischen Verfassung vielleicht so alles steht. Er brauchte detaillierte Kenntnisse des amerikanischen Wahlkampffinanzierungsrechts, der Problematik um die politische Sonderstellung von Indianerterritorien und zumindest etwas Hintergrundwissen über die Geschichte der demokratischen Partei in den Südstaaten.

Nun wird man einwenden wollen, dass es in «House of Cards» vordergründig um Macht(versessenheit), Intrigen, Betrug und zwei mehr oder weniger psychopathische Hauptfiguren gehen mag. Doch tragende Sachzusammenhänge im Plot, wie sich Frank Underwood ins Oval Office intrigiert und dort zu verbleiben gedenkt, entstehen aus diffizilen Rechtskonstrukten, die die meisten normalgebildeten Amerikaner im Detail nicht kennen dürften, von Ausländern ganz zu schweigen. Und doch ist diese Serie ein weltweiter Erfolg.

Mit «Marseille» startete Netflix gestern seine erste französische Serie. Nicht unähnlich wie «House of Cards» spielt sie im Polit-Milieu. Das soll die Erwartungen nicht verzerren: «Marseille» ist keine Adaption oder so etwas wie das europäische Kind des amerikanischen Hit-Formats. Aber die beiden Serien sind vielleicht Cousins zweiten Grades. Denn wie «House of Cards» spielt «Marseille» in der Politik, und konnte mit Gérard Depardieu einen der größten Stars des Landes verpflichten.

Anders als «House of Cards» hingegen hat sich Netflix in Frankreich nicht den Sitz des Staatspräsidenten als Spielort für seine Intrigengeschichten ausgewählt, sondern das Bürgermeisteramt von Marseille. Und dort geht es – das kann der Verfasser dieser Zeilen nach einer durchgebingeten Nacht garantieren – nicht minder intrigant zu als in Frank Underwoods Weißem Haus.

«Marseille» ist eigentlich eine sehr lokale Serie, die trotz aller vordergründigen universellen (zwischenmenschlichen) Themen einen sehr französischen Stoff erzählt. Wie «House of Cards» läuft sie aber weltweit – und soll wohl auch ein globales Publikum ansprechen.

“Comedy doesn’t travel“ lautet derweil eine alte Weisheit aus Hollywood, die verdeutlichen soll, dass Komödien es aufgrund global weit unterschiedlicher Humorvorstellungen meist schwer haben, in vielen Märkten ähnlich erfolgreich zu sein. Für politische Stoffe muss diese Regel erst recht gelten; schließlich sind politische Systeme und Vorstellungen kulturell und normativ banalerweise äußerst regional geprägt. Eine kleine Ausnahme bildeten fast ausschließlich amerikanische Polit-Stoffe. Weil den amerikanischen Polit-Betrieb jeder zumindest ein bisschen kennt (oder zu kennen glaubt).

Nun hat die dänische Serie «Borgen» bereits einen kleinen Beweis antreten können, dass auch außerhalb den USA angesiedelte Polit-Stoffe in anderen Märkten Erfolg haben können – auch wenn sie außerhalb Skandinaviens eher in elitären (Kritiker-)Kreisen begeistern konnte als bei einer Zuschauerklientel, die man guten Gewissens Masse nennen könnte. Vielleicht gelingt allerdings «Marseille» auf der weltweiten Universal-Plattform Netflix der Schritt zum globalen Zuschauererfolg.

Ob schon jemand einen Serienstoff im Kanzleramt entwickelt? Also diesmal richtig?
06.05.2016 15:30 Uhr Kurz-URL: qmde.de/85417
Julian Miller

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360 Grad Borgen House of Cards Marseille

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