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In «Marseille» ist alles käuflich

Die erste europäische Netflix-Produktion überzeugt mit einer spannenden Hauptstory und schönen Bildern. Getrübt wird das Serien-Erlebnis lediglich durch sinnlose Nebenhandlungen und etwas eintönige Charaktere.

Cast & Crew

  • Idee/Autor: Dan Franck
  • Regisseur/Showrunner: Florent Siri
  • Hauptdarsteller: Gérard Depardieu, Benoît Magimel, Géraldine Pailhas, Nadia Farès, Stéphane Caillard
  • Ausführende Produzenten: u.a. Erik Barmack, Kelly Luegenbiehl
  • Produziert von: Pascal Breton
In diesem Jahr realisierte Netflix seine weltweite Expansion und verfolgt dabei schon seit Längerem eine Strategie, die nicht nur den amerikanischen Raum ins Auge fasst. Erste Ausläufer in den lateinamerikanischen Markt präsentierte der Streaminganbieter bereits im vergangenen Jahr mit «Narcos» oder «Club de Cuervos». Im Zuge der neuen Serie «Marseille» beginnt Netflix nun mit der spezifischen Produktion von Originals, die auf den europäischen Markt zugeschnitten sind – und das mit einem wirklich prominenten Hauptdarsteller.

Der Kampf um Marseille


Mit «Marseille» versucht sich Netflix erneut an einer Politserie. In der zweitgrößten Stadt Frankreichs stehen demnächst die Bürgermeisterwahlen an, bei denen das 20 Jahre lang regierende Stadtoberhaupt Robert Taro (Gérard Depardieu) nicht mehr antreten möchte. Vielmehr will er den Staffelstab an seinen politischen Ziehsohn und stellvertretenden Bürgermeister Lucas Barrès (Benoît Magimel) abgeben. Doch so wohl erzogen, wie Taro ihn wähnt, ist er nicht. In letzter Sekunde stellt sich Barrès aufgrund eines geplanten Kasinos gegen seinen Bürgermeister, was Robert Taro dazu veranlasst, doch wieder seinen Hut in den politischen Ring der Stadt zu werfen, um seinem Zögling den Weg an die Spitze zu verbauen.

Von hier an beginnt ein erbitterter Zweikampf der beiden Hauptcharaktere um die Vorherrschaft in den Umfragen und der entscheidenden Wahl. Doch so sehr das Kasino anfänglich noch im Fokus steht, schnell werden inhaltliche Debatten über Bord geworfen und die Machtspiele nehmen ihren Lauf. Die Kontrahenten liefern sich ein recht packendes Duell um die beste Intrige, ständig wendet sich das Blatt zu Gunsten des einen oder des anderen, wobei diese Plot-Twists oftmals denen einer Soap nacheifern.

Nette, aber sinnlose Nebenhandlungen


Neben dieser zentralen Handlungslinie versucht Showrunner Florent Siri diverse Nebenhandlungen zu etablieren, die jedoch mit dem originären Plot, eben diesem Duell zwischen Taro und Barrès, wenig zu tun haben. Da wäre zum Beispiel die Tochter des Bürgermeisters, die als Journalistin bei einem Lokalblatt arbeitet und sich in einen jungen Mann aus den Problemvierteln Marseilles verliebt. An dieser Stelle hätten die Macher eine interessante Gegenüberstellung der reichen Stadtelite und der verarmten sowie kriminellen Bevölkerung zeigen können.

Doch viel lieber bedienen sie sich in dieser Nebenhandlung den klassisch-romantischen Elementen des Storytelling-Baukastens: nach großer Freude kommt stets der tiefe Fall. Die schönen Shots über die abgehalfterten Problemviertel der Mittelmeerstadt können über dieses Manko leider nicht hinwegtäuschen. Doch so ergeht es letztlich jeder Handlung abseits des politischen Zweikampfs: sie sind alle gut gemeint, entfalten jedoch nie ihr volles Potenzial.

Depardieu: Ruhig, pragmatisch, machtbesessen


Darum lohnt es sich, den besonderen Fokus auf die Auseinandersetzung zwischen Taro und Barrès zu legen. Die für eine solch zugeschnittene Handlung nötigen schauspielerischen Leistungen liefern Gérard Depardieu und Benoît Magimel im Großen und Ganzen ab, wenngleich beide nicht ihr volles Potenzial abrufen. Depardieu ist manchmal etwas tapsig und sein Gesicht spiegelt nicht immer die emotionalen Momente wider; Benoît wirkt ab und an etwas zu verbissen, was sich ebenfalls in seiner gekniffenen Mimik zeigt. Doch das sind eher Haare in der Suppe als wirklich störende Komponenten der guten Schauspielleistung der Hauptprotagonisten. Nicht umsonst bezeichnete Showrunner Florent Siri Depardieu als den „talentiertesten französischen Schauspieler“.

Depardieu verkörpert den abgeklärten und routinierten „Elder Statesman“, der eigentlich genug von der Politik hat, wirklich gut. Im Laufe seiner 20 Amtsjahre wurde Taro zunehmend zum Machtpolitiker, der kühl und pragmatisch seinen Weg geht: „In Marseille ist alles käuflich“. Er würde sogar seine gesamte Partei auf nationaler Ebene mit in den Abgrund ziehen, um seine Ziele zu erreichen. Zum Sympathieträger wird er dabei für den Zuschauer jedoch nie. Es ist zugegebenermaßen auch nicht leicht, jemanden als einnehmend zu empfinden, der vor allem zu Beginn der Serie chauvinistisches Verhalten an den Tag legt. Bereits in der ersten Szene der Serie wird dem Zuschauer gezeigt, was ihn bei Taro erwartet: der Bürgermeister sitzt alleine in einem Hinterzimmer des Fußballstadions und zieht eine Ladung Kokain durch die Nase.

Magimel: Opportunistisch, chauvinistisch, klischeehaft


Doch man glaube nicht, sein Antagonist sei anders gestrickt. So scheint er zwar zu Beginn wie der geschundene Hund des politischen Ziehvaters, der auch nach seiner Abwahl weiter die Fäden in der Hand behalten will, doch bereits kurz nach seiner Rebellion zeigt sich, dass Lucas Barrès ein fast noch größerer Macho ist. Der stellvertretende Bürgermeister ist in jeglicher Hinsicht ein Opportunist, der für die Verwirklichung seiner Ziele vor nichts zurückschreckt – und dabei schläft er mit jeder Frau, die für ihn Vorteile mit sich bringen könnte. „Ich habe die Fähigkeit, anderen entgegenzukommen, indem ich mich so zeige, wie man es erwartet.“

Leider gestaltet sich sein Charakter somit etwas übertrieben, da man ihm die idealistischen Motive zur Rettung Marseilles nicht abkaufen möchte. So wirken beide Hauptcharaktere leider zu klischeehaft, zu sehr am machtpolitischen Reißbrett entworfen – ohne dass sie der charmanten Arroganz eines Frank Underwood nacheifern könnten. Immerhin: an dieser Stelle die wohl beste schauspielerische Leistung des Casts hervorzuheben: Geraldine Pailhas spielt die depressive Ehefrau von Bürgermeister Taro mit einer eindrücklichen Emotionalität.

Die spannende Wahl trägt die Serie


Netflix

  • Mit derzeit 47 Millionen Abonnenten ist Netflix der größte Video-Anbieter der Vereinigten Staaten.
  • Gemessen an den Nutzerzahlen hat Netflix in den USA bereits mehr Zuschauer als jeder einzelne herkömmliche Fernsehsender.
  • Weltweit kommt man aktuell auf rund 81 Millionen Abonnenten.
  • Bis auf die Volksrepublik China, Nordkorea, Syrien und die Krim ist Netflix weltweit verfügbar.
Da letztlich keiner der beiden Hauptcharaktere zum Sympathieträger avanciert, speist sich die Spannung von «Marseille» aus der Frage, wer sich in der Bürgermeisterwahl durchsetzen wird. Dieses Duell reicht auch völlig aus, um der Serie als Zuschauer treu zu bleiben, auch wenn die Serie erst zur dritten Folge richtig in Fahrt kommt. Die Nebenhandlungen wirken vielmehr wie Mitläufer, die der Politserie keinen zusätzlichen Schub verleihen können. Die Charakterkonstellation wirkt dabei ziemlich konstruiert, da alle Figuren auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden sind. Aus erzählerischer Sicht ist das nachvollziehbar, aber die Grenzen des Realistischen wurden dann doch gesprengt.

Erzählerisch basiert die Serie sehr stark auf den Dialogen zwischen den vielen Charakteren. Ist eine Figur mal alleine zu sehen, ertönen in aller Regel Stimmen aus dem Off, die verdeutlichen sollen, was in der Person gerade vorgeht. Da machen es sich die Produzenten zwar etwas einfach, doch es ist ein praktisches Element zur Rekapitulation der bisherigen Handlung. Vor allem aber überzeugt «Marseille» im szenischen Bereich. Die vollständig in Frankreich gedrehte Serie beeindruckt mit tollen Bildern, einer hochwertigen Produktion sowie authentischen Kulissen.

Aber nicht alle Aspekte der Serie sind ordentlich bis positiv zu bewerten. Ab und zu sind vor allem die kurzen Füller zwischen zwei Szenen irritierend und unverständlich. Außerdem wirken Stilmittel der filmischen Erzählkunst manchmal unbeholfen. Beispielsweise, als die Macher das Cello-Spiel von Rachel Taro und eine anderweitige spannungsgeladene Handlung parallelisieren wollten, um die Dramaturgie der einen Szene auf die andere zu übertragen, wirkte beides im Zusammenspiel nicht optimal. Insgesamt ist die musikalische Begleitung jedoch passend, wenn auch stellenweise übertrieben. Ab und zu gelingt den Machern zudem eine interessante Symbolik, insbesondere im Zusammenhang mit dem Stadion von Olympique Marseille, das zu Beginn und am Ende der Serie einen schönen Kreisschluss ermöglicht.

Fortsetzung erwünscht – mit Einschränkungen


Die neue Netflix-Serie «Marseille» bezieht ihren Charme vor allem aus dem spannenden Ausgang der Wahl und der damit einhergehenden Intrigen, die das Pendel stets in Richtung Taros oder Barrès‘ ausschlagen lassen. Die Produktion ist Netflix-typisch hochwertig und zeigt nur wenige Mängel, während die oft etwas klischeehaften Charaktere allesamt gut, jedoch nicht überragend gespielt werden. Insgesamt ist «Marseille» vielmehr ein sechsstündiger Film als eine achtteilige Serie, obwohl jede der 35- bis 45-minütigen Episoden einen eigenen Cliffhanger besitzt. Das Ende der ersten Staffel ist darüber hinaus so gestaltet, dass sowohl eine Absetzung als auch eine Weiterführung durchaus in Betracht kommen würden. Wenn man die kleinen handlungstechnischen Mängel, vor allem die sinnlosen Nebenstorys, ausmerzt, hätte eine Fortsetzung von «Marseille» definitiv ihren Reiz.

Die erste Staffel «Marseille» ist seit dem 5. Mai auf Netflix abrufbar.
06.05.2016 10:30 Uhr Kurz-URL: qmde.de/85392
Robert Meyer

super
schade


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Tags

Club de Cuervos Marseille Narcos

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