Ein Mord gibt Einblick – Sophie Haas ist zurück und wird von der Ermittlerin zum Objekt der Ermittlungen. Über einen Fernsehfilm, der mehr über die Serie aussagt, als viele der jüngeren Episoden.
Geniestreich am Scheideweg
Bereits im Jahr 2008 war «Mord mit Aussicht» mit sechs Episoden aus der Feder der Autorin Marie Reiners gestartet.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Caroline Peters als Sophie Hass
Bjarne Mädel als Dietmar Schäffer
Meike Droste als Bärbel Schmied
Petra Kleinert als Heike Schäffer
Johann von Bülow als Jan Schulte
Nina Proll als Sandra Holm
Arnd Klawitter als Dr. Jochen Kauth
Matthias Matschke als Hans-Peter Jogereit
Hinter den Kulissen:
Produktion: Peter Güde & Andreas Lichter
Drehbuch: Benjamin Hessler
Regie: Jan Schomburg
Musik: Andreas Schilling
Kamera: Marc ComesAutobiographisch angehaucht, zeichnete sie eine zwar durchaus bekannte „fish out of water“-Story, die aber mit einer filigranen Beobachtungsgabe des Lebens abseits deutscher Großstädte, skurrilen Bild- und Tonkompositionen und einem wunderbaren Cast punktete. Die Einschaltquoten waren für den Sendeplatz eher enttäuschend, doch entzückte die liebenswerte Schrulligkeit inmitten gleichgeschalteter Formate Publikum wie Kritiker. Weitere sieben Episoden, die seitdem zur ersten Staffel gezählt werden, folgten 2010. Da auch die Quoten anstiegen, brachte man 2012 eine weitere Staffel, die die Rahmenstory ergänzte, im Kern aber immer ihren Fokus auf der funktionieren Figurenkonstellation hielt.
Abnutzungserscheinungen waren zwar hier und da spürbar, wurden aber meist von charmanten Ideen und dem Zusammenspiel des Ensembles überdeckt.
Als 2014 die langersehnte dritte Staffel startete, war die Ernüchterung jedoch groß. Aus dem einstigen Vorzeigeformat abseits des Mainstreams war ein zu oft zahnloser Schmunzelkrimi im Stile einiger Vorabendserien geworden, der sich durch unnötige dramaturgische Eingriffe selbst seiner Stärken beraubt hatte. So war Sophie Haas inzwischen fast vollständig zum Teil der dörflichen Kultur geworden und hatte ihre Sonderstellung verloren. Auch Bjarne Mädels kauziger Dietmar Schäffer glänzte zunehmend mit aufgewärmtem Witz, als wirklich noch als Alleinstellungsmerkmal durchzugehen. Dennoch tauchten im Verlauf der Staffel auch starke Momente auf, die zu Hoffnung Anlass gaben. Bei den Einschaltquoten machte sich die inhaltliche Verwässerung glücklicherweise nicht bemerkbar – «Mord mit Aussicht» war 2014 die meistgesehene Fernsehserie Deutschlands.
Irritationen über verkürzte Drehzeiten und Einsparungen beim Budget führten hinter den Kulissen zu Missmut – allen voran bei Bjarne Mädel, der erklärte, für eine weitere Staffel nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Ob und wie es mit der Serie weitergeht, steht aktuell in den Sternen – so ist der vorliegende Fernsehfilm eventuell nur ein Special, um die Wartezeit zu verkürzen, im traurigsten Fall aber auch das Ende der Reihe.
Alles auf Anfang
Aufgrund der genannten Kritik ist es vermutlich ein schlauer Zug und durchaus kein Zufall, dass die Handlung mit einem Kniff beginnt, der uns daran erinnert, was Sophie Haas seit Beginn der Serie eigentlich umtreibt: Endlich wieder raus aus Hengasch und zurück ins geliebte Köln zu kommen. Und wie schon zu Beginn der Serie muss sie eine herbe Enttäuschung verarbeiten, da ihre aktuelle Bewerbung erneut abgelehnt wurde. Ein dezentes Gefühl von Déjà-vu weht an dieser Stelle durchs heimische Wohnzimmer und entblößt einen emotionalen Reset, den man ein wenig spöttisch als Rettungsversuch für die verlorene Integrität der Protagonisten bezeichnen kann.
Sophie hat sich offenbar zu lange und fast erfolgreich eingeredet, im Reinen mit sich und ihrem Leben in Hengasch zu sein – doch sitzen ihr heimlicher Wunsch und ihre Enttäuschung zu tief. Nicht grundlos verprügelt sie den für ihre Absage Verantwortlichen Oberkommissariatsleiter Hans-Peter Jogereit in einem sehr lebendigen Traum – der für sie sicherlich kein Albtraum war.
Doch muss Sophie sich auch in der Realität mit Jogereit auseinandersetzen. Als in seinem Ferienhaus im Hengascher Nachbarort Hammelforst eingebrochen wird, ist sie zur Stelle und erkennt, dass ihr Feindbild noch deutlich unsympathischer und korrupter ist, als sie ohnehin angenommen hatte.
© WDR/Michael Böhme
Alle möglichen Entlastungszeugen werden ausführlich von Holm vernommen. Doch jeder schildert die vergangenen 24 Stunden aus seiner ganz subjektiven Sicht … so auch Bärbel Schmied (Meike Droste, Bildmitte) V.l. Heike Schäffer (Petra Kleinert), Sophie Haas (Caroline Peters), Bärbel Schmied (Meike Droste), Dietmar Schäffer (Bjarne Mädel), Irmtraut Schäffer (Carmen-Maja Bülow), Hans Zielonka (Michael Hanemann), Yvonne (Marie Hiller).
Während im Gasthof Aubach ausgelassen Dietmars Geburtstag gefeiert wird, präsentiert man uns Sophie Haas endlich einmal wieder mit der nötigen Distanz zu ihrer Umgebung, mit diesem entrückten Charme, mittendrin und doch nicht ganz dabei zu sein. Ein wichtiger Schritt.
Doch endet auch die beste Party, wenn das Telefon klingelt. Sophie wird erneut zu Jogereit gerufen – und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Als die Hammelforster Kriminalkommissarin Sandra Holm später ebenfalls bei Jogereit eintrifft, findet sie ihre Kollegin samt Tatwaffe in der Hand über dem toten Hausbesitzer. Hat unsere Heldin etwa die Nerven verloren?
Das Drehbuch kombiniert an dieser Stelle den angesprochenen Reset mit einem Setting, das den Alltag der Reihe auf den Kopf stellt. Keine schlechte Entscheidung, wie sich zeigen wird.
Sind Sie sicher, dass Ihre Darstellung objektiv ist?
Kern des Films sind die Verhöre, die diesmal in den - fast erschreckend professionellen – Räumlichkeiten der Polizei Hammelforst durchgeführt werden. Und während Sandra Holm mit Sophie, Dietmar, Bärbel und Heike die Geschehnisse des Tages Revue passieren lässt, entspinnt sich ein zunehmend schräges Bild voller Sekundärinformationen, die Holm mehr und mehr ratlos zurücklassen.
Dabei ist es äußerst spannend zu erleben, wie die Verhöre mehr über die Charaktere an sich aussagen, als über die Personen, über die sie eigentlich berichten sollen.
So geht es in Dietmars Welt sehr ruhig und entspannt, fast schon meditativ entschleunigt zu. Sophie klingt für ihn wie Louis de Funes auf Helium, seine Geburtstagsschenke sind noch viel größer, weicher und wunderbarer als in der Realität und Ehefrau Heike die ultimative Sexbombe. Dietmar Schäffer, Lebemann und Lonesome Cowboy von Hengasch.
Bärbel interessiert sich hingegen nur für ihr Baby und durchlebt in jedem ihrer Sätze Auswirkungen ihrer postnatalen Depression, wie Kommissarin Holm es wenig mitfühlend notiert. Ihre Welt ist meist rosarot, Mitmenschen sprechen selbst über die schlimmsten Dinge in einem fröhlichen Singsang, überall zwitschern Vögel und am Ende wird alles gut. Außer es wird eben gerade gar nichts gut - dann ist ihr Leben nur Sekunden später ein Meer aus Tränen, Sorgen und Ängsten. Hier schneidet der Autor ein Thema an, das für viele Frauen mit einer Menge Leid verbunden ist und eigentlich nicht verharmlost werden sollte – aber gerade noch an der Kante zur Geschmacklosigkeit vorbeischrammt.
Sophie verstrickt sich währenddessen in unbeholfene Wiedersprüche und Lügen. Doch auch ihre Umwelt kommt nicht allzu gut weg: In ihren Augen wiegt Dietmar mindestens 50 Kilo mehr, Bärbel ist noch weltfremder als ohnehin, Jogereits Freundin nicht nur jung sondern fast noch ein Kind und sie selber steht als kompetentes, zackiges und professionelles Zentrum inmitten ihres funktionierenden Teams.
Zuletzt ist noch Dietmars Ehefrau Heike an der Reihe. Für sie ist ihr Mann ein eleganter Feldherr - schlank, mit vollem Haar und ungetrübtem Blick. Ein Frauenheld par exellence. Nachvollziehbar, dass sie sich bei dieser doch sehr eigenwilligen Wahrnehmung selbst als Marylin Monroe sieht, die ihrem Mann ein glamouröses Ständchen bringt. Für Dietmars Mutter bleibt hingegen nur die Rolle der nervtötenden Versagerin – der Kuchen ist zusammengefallen, der Schal schwer wie eine rostige Kette. Ein Hoch auf Schwiegermütter. Doch auch Sophie hat wenig Glück – sie ist die affektierte, arrogante Ziege, die vornehmlich über ihre eigenen Scherze kichert. Herrlich.
Das Drehbuch zeigt ein großes Gespür für die Verschrobenheit seiner Charaktere – besonders Sophie Haas wird mehr als einmal wenig stromlinienförmig und fast schon zwiespältig skizziert. Dennoch bleibt sie sich am Ende absolut treu, ohne dabei vorsehbar zu agieren. Kudos!
Akira Kurosawa wäre stolz
Autor Benjamin Hessler, der bereits für einige gelungene Drehbücher der Serie verantwortlich zeichnet, ist mit seiner Vorgehensweise, mehrere Charaktere den gleichen Sachverhalt schildern zu lassen, einem Phänomen auf der Spur, das seit Akira Kurosawas Film «Rashōmon» von 1950 gerne mit dem Begriff Rashomon-Effekt belegt wird und sich der selektiven Wahrnehmung verschiedener Individuen widmet.
In diesem Meilenstein der internationalen Filmgeschichte, der bis heute als Grundlage für die unterschiedlichsten Abhandlungen über die Existenz einer objektiven Wahrheit, aber auch über Schuldfragen, die Bedeutung von Wahrnehmung sowie andere psychologische, philosophische und filmhistorische Themen dient, geht es um die Vergewaltigung einer jungen Frau und die Ermordung ihres Mannes, eines Samurai, die aus insgesamt vier verschiedenen Blickwinkeln wiedergegeben werden, wobei jeder Blickwinkel, aus einer individuellen Motivation und Wahrnehmung heraus, mehr oder weniger stark von den anderen abweicht.
Bis heute mahnt der Film, einer subjektiven Wahrnehmung und somit den eigenen Augen zu misstrauen. Die Wahrheit liegt zwar sprichwörtlich im Auge des Betrachters, doch selten im Auge eines einzelnen Betrachters.
Ob Hessler hier tatsächlich das Original zitiert oder eine der vielen bereits existierenden Varianten neu durchspielt ist letztlich zweitrangig: Gelungen ist der Kniff in jedem Fall und führt durch Hesslers sorgfältige Charakterstudie zu amüsanten wie interessanten Erkenntnissen.
The more things change, the more they stay the same
In Sachen filmischer Umsetzung entschied sich der WDR dafür, zwei Kreative des deutschen Kinos an Bord zu holen. Regisseur Jan Schomburg hatte bereits mit «Über uns das All» und «Vergiss mein Ich» gefallen können und liefert auch hier eine gute Leistung ab. Gleiches gilt für Kameramann Marc Comes, der ebenfalls an beiden Werken gearbeitet hatte.
Ihr Zusammenspiel gibt der Serie einen etwas abgeklärteren Look, der sich zwar wunderbar mit der Skurrilität des immer noch reichen Settings verbindet, es aber auch dem Wimmelbild-Charme der Anfänge noch ein Stück weiter entrückt. Jene berüchtigten Bildkompositionen der ersten Episoden, in denen man überall etwas entdecken konnte und gerne auch einmal zurückspulte um alles zu erfassen, wurden jedoch bereits in den letzten Staffeln nicht mehr derart komprimiert erreicht.
Dem Film ist hier absolut kein Vorwurf zu machen, an einigen Stellen versucht er gar gezielte Anleihen und reicht dabei nahe an besten Zeiten heran. So in der Szene mit dem Pudel an der Flexileine oder am Beispiel des Hauses von Jogereit, das wie ein narzisstischer Alptraum aus purer Geltungssucht inszeniert wird.
Auf Darstellerseite liefern alle bekannten Gesichter gewohnt hohes Niveau. Neu dabei und direkt im Zentrum des Interesses steht diesmal Nina Proll als Sandra Holm, die Sophie Haas zwar vehement auf den Zahn fühlt, dabei aber auch sympathische Momente spröden Humors erhält. Proll kann in dieser Rolle problemlos überzeugen.
Einige Längen schleichen sich mit zunehmender Spielzeit ein, die aber am ehesten der ungewohnten Laufzeit geschuldet sind und nicht weiter störend wirken. Auch zerfasert der Humor gen Ende in einer etwas klamaukartigen Weise, die nicht so recht zum Rest passen will.
Dennoch: In der Summe muss man dem Film attestieren, durch seinen Reset-Charakter und das gewählte Ende als Türöffner für potentiell neue Zuschauer, wie auch als Geschenk für langjährige Fans und obendrein als Abschluss der Handlung zu funktionieren. Eine erstaunliche Leistung.
Alle Türen sind somit geschlossen und doch sperrangelweit offen – es bleibt abzuwarten, was die Verantwortlichen daraus machen. Der deutschen Fernsehlandschaft ist zu wünschen, dass Formate wie dieses in Zukunft weniger stiefmütterlich behandelt werden. Vielleicht gibt es ja sogar für die Reihe selber noch eine Zukunft – in welcher Form auch immer.
Fazit
«Ein Mord mit Aussicht» ist ein unterhaltsames Stück Wohlfühl-TV mit Herz und Humor, das sowohl den darbenden Fans als auch solchen, die es erst noch werden wollen gerecht wird und das im Zweifelsfall sogar als Schlussakkord der Serie durchgehen kann.
«Ein Mord mit Aussicht» ist am 28. Dezember 2015 ab 20.15 Uhr im Ersten zu sehen. Die zugehörige Blu-ray und DVD werden am 29. Dezember 2015 veröffentlicht.