Nach dem monumentalen Avantgarde-«Tatort» "Im Schmerz geboren" kann der diesjährige Film mit Ulrich Tukur wieder überzeugen - und überraschen.
Cast & Crew
Vor der Kamera:
Ulrich Tukur als Felix Murot/Ulrich Tukur
Barbara Philipp als Magda Wächter/Barbara Philipp
Wolfram Koch als Paul Brix/Wolfram Koch
Martin Wuttke als Andreas Keppler/Martin Wuttke
Margarita Broich als Anna JennekeMargarita Broich
Michael Rotschopf als Jens Hochstätt
Justus von Dohnányi als Regisseur Konrad
Hinter der Kamera:
Produktion: Hessischer Rundfunk
Drehbuch und Regie: Bastian Günther
Kamera: Michael Kotschi«Tatorte» bleiben im Normalfall nicht lange im Gedächtnis. Meist sind sie unauffällig, immer ordentlich produziert, ein bisschen spannend, oft mit dem Versuch, ein gesellschaftliches Brandthema im Plot zu beackern, was in manchen Spielorten besser, in machen wesentlich schlechter gelingt. Zwischen den Ermittlern herrscht eine gewisse Grundspannung, am Schluss knacken die Handschellen und Kommissar Borowski oder Kommissarin Blum gucken mit bedeutungsschwangerem Blick vor sich hin, um zu suggerieren, sie müssten jetzt erst einmal verarbeiten, was die letzten neunzig Minuten passiert ist.
Möglicherweise ist das gerade eine ziemlich ungerechte Charakterisierung des Sonntagabendprogramms im Ersten gewesen. Aber sie ist meiner Erfahrung geschuldet. Ich habe in den vergangenen zwei Jahren über drei Dutzend «Tatorte» für Quotenmeter.de rezensiert. Und an die Hälfte von ihnen kann ich mich kaum bis gar nicht erinnern. Und das, obwohl ich sie aufmerksam gesichtet und mich mit ihren filmischen und dramaturgischen Strukturen auseinander gesetzt habe. Die Erinnerungsquote des durchschnittlichen Zuschauers dürfte nicht besser sein.
Ein «Tatort», an den man sich dagegen noch in Jahren erinnern dürfte, – und das mit großer Freude – ist
“Im Schmerz geboren“, ein avantgardistisches Shakespeare-artiges Rachedrama, das der Hessische Rundfunk vergangenes Jahr mit seinem Wiesbadener Ermittler Felix Murot erzählte.
Am Sonntag darf Murot nach über einem Jahr Pause nun wieder ran. Und es dürfte nicht sonderlich überraschen, dass sich die neue Folge wieder stark vom «Tatort»-Regelbetrieb abhebt. Nur geschieht das diesmal auf ganz andere Weise als in dem monumentalen Avantgarde-Stück vom zurückliegenden Jahr.
Die Hauptfigur von „Wer bin ich?“ heißt nicht Felix Murot. Sie heißt Ulrich Tukur und dreht gerade einen neuen «Tatort» für den Hessischen Rundfunk. Doch die Dreharbeiten müssen unterbrochen werden. Der Aufnahmeleiter ist vergangene Nacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Polizei verdächtigt Tukur, etwas mit dem Tod des Mannes zu tun zu haben. Nach dem feuchtfröhlichen Bergfest gestern Abend sei der Schauspieler nämlich zu ihm in den Wagen gestiegen. Unterwegs hätten sie noch an einem Casino Halt gemacht, wo das Opfer fast achtzigtausend Euro gewonnen habe. Tukur, so die Überlegung der Ermittler, habe dieses Geld geraubt und den Aufnahmeleiter erschlagen.
Das Überraschende für Tukur: Die Polizei hat Filmaufnahmen, die zumindest seinen Casino-Besuch mit dem Aufnahmeleiter bestätigen. Nur: Tukur kann sich an überhaupt nichts erinnern. Ehrlich nicht. Er ist gegen Mitternacht ins Hotel gegangen und nie zu dem Mann ins Auto gestiegen.
Schon vergangenes Jahr sah der Wiesbadener «Tatort» wenig nach «Tatort» aus. Dieses Jahr ist das ähnlich. Doch während „Im Schmerz geboren“, wie eingangs beschrieben, ein opulentes und vielsagendes, künstlerisch hochwertvolles Drama war, erinnert „Wer bin ich?“ eher an die Insider-Komödien von Helmut Dietl, speziell natürlich an «Rossini». Wieder wird die vierte Wand eingerissen, aber an einer ganz anderen Stelle. Ganz anderes Thema. Ganz anderer Ton. Ganz andere narrative Prioritäten.
„Wer bin ich?“ glänzt dabei mit seiner ziemlich schonungslosen Selbstironie und einer treffenden Persiflage auf die standardisierte «Tatort»-Dramaturgie, die man erfüllt, während man sie parodiert. Besonders erfrischend sind die Gastauftritte der Frankfurter «Tatort»-Darsteller Margarita Broich und Wolfram Koch sowie des ehemaligen Leipziger Ermittlers Martin Wuttke, die (hoffentlich!) fiktive Versionen ihrer selbst spielen. Koch tritt als maßlos arroganter Filmfuzzi auf, Broich als gestandene Schauspielerin, die lächelt, wenn sie töten möchte, und Wuttke als gescheiterter Fernsehstar, der nach dem Aus seiner Reihe kurz vor der Privatinsolvenz steht und wahrscheinlich sogar seine Bude in der Uckermark verticken muss. Tukurs «Tatort»-Partnerin Barbara Philipp sucht derweil eine Rolle, mit der sie endlich mal bei einem Festival abräumen könnte („Ja, gibt’s nicht irgendwo nen schönen Nazi-Film? Der Tukur darf einen Nazi nach dem anderen spielen!“).
Dabei lebt „Wer bin ich?“ mehr vom
Wie als vom
Was, mehr von der äußerst gelungenen Inszenierung des tollen Ensembles unter Regisseur und Autor Bastian Günther und der hervorragend getroffenen Atmosphäre als vom Gang der Ereignisse oder dem Whodunnit-Spannungsbogen. Auch das muss man sich sonntagabends im Ersten trauen.
Gewissermaßen ist der Wiesbadener «Tatort» auch dieses Jahr wieder eine Zwangsinfusion kultureller und künstlerisch überraschender Inhalte für die Zuschauer, die sich auf diesem Sendeplatz am liebsten die behäbigen Abenteuer von Schnarch und Sack reinziehen. Für jene, die vom Fernsehen ohnehin mehr erwarten als das seelenlose Abspulen des Wer-ist-der-Täter-Spielchens in behäbiger Manier und bekanntem Umfeld, aus dem gut die Hälfte aller «Tatorte» im Normalzustand besteht, dürften diese eineinhalb Stunden Murot-«Tatort» im Jahr ohnehin der kleine Wink der ARD sein, mit dem sie zeigen will, dass sie auch auf dem Spitzensendeplatz mal an sie gedacht hat.
Das Erste zeigt «Tatort – Wer bin ich?» am Sonntag, den 27. Dezember um 20.15 Uhr.