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«Flesh and Bone»: Tanz mit dem Teufel

Ballett? Ja, aber auch Sex, Machthunger, tote Träume und Ideale. «Flesh and Bone» ist schwere Kost - und macht gerade deshalb süchtig. Über den Serien-Geheimtipp im Herbst.

Cast & Crew

  • Idee: Moira Walley-Beckett («Breaking Bad»)
  • Darsteller: Sarah Hay, Ben Daniels, Irina Dvorovenko, Damon Herriman, Josh Helman, Emily Tyra u.a.
  • Berater und Choreograph: Ethan Stiefel
  • Autoren: Moira Walley-Beckett (Pilot)
  • Regie: David Michôd (Pilot)
  • Ausf. Produzenten: Moira Walley-Beckett, John Melfi, Lawrence Bender, Kevin Brown
  • Musik: Dave Porter, Adam Crystal
  • Produktion: Pelican Ballet, Bender Brown, Starz Media
„Ballet is the ultimate optical illusion. We make effort appear effortless. We make difficult divine. And we make gravity...our bitch.“


Als diese Sätze gegen Ende der ersten Folge von «Flesh and Bone» fallen, wissen wir, worum es geht. Wir haben es mit eigenen Augen gesehen: die physischen und psychischen Strapazen, die das Ballett hervorruft. Die Überwindungen, die es kostet, den Traum zu tanzen. Und die Kunst, diesen Hochleistungssport so aussehen zu lassen, als würde man leichtfüßig über das Parkett schweben. Ballett lebt von diesen Gegensätzen, die Serie ebenso:

1. Lebe deinen Traum: Künstler zu werden, ist kein Ausbildungsberuf. Ob Schriftsteller, Maler, Musiker, Tänzer – alles fängt damit an, seiner Passion nachzugehen und sein normales Leben aufzugeben. Wir begegnen dem Künstlermotiv in Form von Claire Robins, der Hauptfigur von «Flesh and Bone». Eine blutjunge Tänzerin von 21 Jahren, wunderschön, Spitzname „Bambi“.

Die Serie beginnt in ihrem Kinderzimmer, ihre Türe hat sie verschlossen, das Fenster zur Freiheit geöffnet. Der Vater klopt an. In diesen Sekunden, so merken wir später, entscheidet sich Claires Schicksal. Sie geht das Risiko, nimmt ihren riesigen Koffer, steigt aus dem Fenster, vielleicht für immer. Einen Schnitt später ist Claire in New York angekommen, vollkommen allein. Ihr Weg führt zur American Ballet Comany, zum offenen Casting. Natürlich ist sie erfolgreich. Am Ende der ersten Episode ist Claire angekommen in New York. Als ihr Freund aus der Heimat erstmals anruft und sich nach ihr erkundigt, bricht für sie eine kleine Welt zusammen. Sie hat sich für einen Weg entschieden, den sie nicht mehr verlassen kann. Claire hat ihre Vergangenheit gegen ihren Traum eingetauscht – und merkt jetzt zum ersten Mal, dass sie mit ihrem alten Leben noch nicht abgeschlossen hat.

2. Die eigenen Ideale: Es reicht nicht, sein Handwerk zu beherrschen, um an der Ballettkompanie zu bestehen. Fast jede Tänzerin kämpft für sich, der psychische Druck ist hoch, Drogen gehören zum Alltag. Eine dieser Drogen ist die Gier nach mehr: nach einer Hauptrolle in der nächsten Saison, nach Ansehen, nach mehr Geld. Eine der Tänzerinnen verdient gut als Stripperin in Luxusclubs, eine andere sucht ihr Glück im Sex.

Es ist eine verdorbene Branche, wenn man so will. Am besten verkörpert «Flesh and Bone» diesen Umstand weniger an den jungen Frauen, sondern an Trainer Paul Grayson, einem machtbesessenen, cholerischen, faszinierenden Charakter (und hervorragend gespielt von Ben Daniels). Er sieht in Claire die nächste Sensation im Ballett-Business. Doch für diese Chance muss sie ihre eigenen Ideale hinterfragen: Sie muss sich anbiedern beim Geldgeber der Ballettkompanie, ihn verführen und begeistern. Und sie muss sich Paul vollends ausliefern, sprichwörtlich mit Haut und Haar. Im Tanzsaal – Claire hat gerade eine beeindruckende Einzel-Performance absolviert – nähert sich Paul ihr, nimmt sie für sich ein, stellt sich hinter sie und lässt sie in den Spiegel blicken. Er sagt: „Do you see what I see? You need to understand your power. Your talent. Your beauty. Harness it. Love it. Use it. And never forget: You're mine.“ Paul wird zur freudianischen Liebhaber-/Vaterfigur im Leben dieser jungen Frau.

3. Selbst- und Fremdzerstörung: Der Beruf des Ballettänzers erfordert eine Unbekümmertheit, eine Unschuld, eine Jugendlichkeit, die jedoch gerade durch die physisch verzehrende Performance des Tanzens langfristig konterkariert wird. Diesen Beruf kann man nicht ewig ausüben, und mit jedem Tanzschritt arbeiten die jungen Frauen und Männer an der Zerstörung ihres eigenen Körpers. «Flesh and Bone» geizt hier nicht mit expliziten Bildern. Gleichzeitig erfordert die immense Konkurrenz unter den Darstellern – angeheizt von Drill-Trainer Paul Grayson –, gegen die anderen zu spielen. Den Ballettsaal nennen alle das „Haifischbecken“. Intrigen und Kämpfe deuten sich an, als Claire der neue Star des Balletts zu werden scheint und die bisherige Prima Ballerina Kiira abzulösen droht. Umso intensiver, emotionaler erlebt man die Momente von Freundschaft, echter Liebe und wahrer, nicht scheinheiliger Dialoge.

«Flesh and Bone» erzählt von hoher Kunst und ist selbst hohe Kunst. Die Serie wagt inhaltlich zwar keine Revolution und ihre Story ist so wenig komplex, dass man sie auf ein paar Hauptsätze reduzieren könnte. Aber sie ist spannend und einvernehmend. Dort wo der Psycho-Thriller «Black Swan», der ebenfalls in der Ballettbranche spielt, seinen Realismus und seine Glaubwürdigkeit zugunsten der Dramaturgie opfert, ist «Flesh and Bone» bodenständiger und interessanter. Die Serie mischt Coming-of-Age-Story mit melodramatischen Elementen, ist außerdem performance-orientiert: Minutenlange Tanzsequenzen von großer Kunstfertigkeit lassen den Zuschauer staunen. Hauptfigur Claire wird gespielt von Sarah Hay, einer ausgebildeten Ballett-Tänzerin. Sie spielte bereits in «Black Swan».

Ob man also an der unkonventionellen starz-Serie Gefallen findet, hängt auch davon ab, wie viel man der großen, klassischen Kunst abseits der Mattscheibe abgewinnen kann: an Künstler-Tropen, an Lebenstraum-Motiven, an neuen Horizonten. In dieser Hinsicht ähnelt die Serie dem wunderbaren «Mozart in the Jungle» von Amazon, das ohne eine zumindest leichte Affinität zur Musik wohl kaum zu ertragen ist. Das heißt nicht, dass man für «Flesh and Bone» Begeisterung am Balletttanz zeigen muss. Aber man sollte sich dafür interessieren, was es heißt, ein Künstler zu sein.
11.11.2015 12:52 Uhr Kurz-URL: qmde.de/81903
Jan Schlüter

super
schade

87 %
13 %

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Tags

Black Swan Flesh and Bone Mozart in the Jungle

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