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Die Kritiker: «Ein großer Aufbruch»

Ein Fernsehfilm der Extra-Klasse. Einer hochkarätigen Besetzung vor und hinter der Kamera ist mit «Ein großer Aufbruch» ein Geniestreich gelungen. Unsere-Vorab-Kritik:

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Matthias Habich als Holm
Hannelore Elsner als Ella
Ina Weisse als Marie
Matthias Brandt als Heiko
Edgar Selge als Adrian
Ulrike Kriener als Katharina
Katharina Lorenz als Charlotte

Hinter der Kamera:
Produktion: Network Movie
Drehbuch: Magnus Vattrodt
Regie: Matti Geschonneck
Kamera: Martin Langer
Produzenten: Silke Schulze-Erdel und Wolfgang Cimera
Es gibt Filme, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Sie werden gerade durch das Zusammenspiel von Buch, Struktur, Atmosphäre, szenischer Umsetzung, Besetzung und Thema zu großartigen Stücken, die einen rasch in ihren Bann ziehen und nicht mehr loslassen.

Ein solcher Film ist «Ein großer Aufbruch». Und sein Titel erinnert nicht umsonst an Francois Rabelais‘ geflügeltes Wort vom „großen Vielleicht“. Es geht um einen älteren Mann, der vor wenigen Wochen erfahren hat, dass er an einer unheilbaren Krankheit leidet und nicht mehr lange leben wird. Er ist in sich gegangen und hat einen Plan gefasst. Er will seine Töchter, seine Ex-Frau und seine engsten Freunde in sein Landhaus am Chiemsee einladen, ihnen dort die Situation eröffnen und bei einem letzten Beisammensein Abschied von ihnen nehmen. Er hat vor, wenige Tage später in die Schweiz zu fahren, um dort mit aktiver Sterbehilfe selbstbestimmt und würdevoll aus dem Leben zu scheiden.

Dieser Mann heißt Holm und er hatte ein bewegtes Leben. Seine beiden Töchter Charlotte (Lottchen) und Marie hat er größtenteils alleine großgezogen. Noch dazu in Afrika, wo er viele Jahrzehnte als Ingenieur in der Entwicklungshilfe tätig war. Genauso lange kennt er auch Adrian und seine Frau Katharina, die ebenfalls lange in Burkina Faso und Togo tätig gewesen sind, bevor Adrian in Europa ein Ingenieurbüro eröffnete und damit einen Batzen Geld verdient hat. Zu seiner Ex-Frau Ella, die seit langer Zeit als Ärztin in Zürich arbeitet, hat Holm schon seit langem wieder ein gutes Verhältnis.

Charlotte lebt heute in Frankreich und betreibt dort mit ihrem Lebenspartner ein Atelier und ein Café. Ihre Schwester Marie ist als erfolgreiche Anwältin viel unterwegs und mit einem Partner der Großkanzlei liiert. Sie kommt nur sehr widerwillig zu dem Treffen, weil sie eigentlich nach New York müsste. Um ihr Erscheinen sicherzustellen, hatte Holm ihr auf der Mailbox die Nachricht hinterlassen, dass dies die letzte Gelegenheit für sie sei, ihn noch einmal lebend zu sehen.

Eine fürchterliche Geschmacklosigkeit, poltert Marie bei ihrem Eintreffen ehrlich entsetzt. Sie hält Holms Behauptung, sterbenskrank zu sein, lange für einen schlechten Scherz. Anderen Gästen geht es ähnlich. Doch langsam werden auch die Zweifler überzeugt. Trotzdem finden die meisten seinen Plan, am Mittwoch in der Schweiz in den Tod zu gehen, pervers. Noch perverser finden sie nur diese Veranstaltung, auf der sie gerade zugegen sind. Bald droht „der große Aufbruch“ zur großen Abrechnung zu werden. Denn bei den Beteiligten haben sich über die Jahre viel alter Frust und nie verwundene Kränkungen angestaut, die nun in einer letzten Katharsis hervorbrechen.

Autor Magnus Vattrodt und Regisseur Matti Geschonneck haben schon im letzten Jahr mit «Das Zeugenhaus» ein sehr dichtes, bedrückendes Kammerspiel geliefert. «Ein großer Aufbruch» spielt ebenso hauptsächlich an einem Ort (in diesem Fall einem alten Bauernhaus) und ist gleichsam sehr dicht und nahbar erzählt, wenngleich er (sicherlich auch aufgrund des anderen Themas) eine lebensbejahendere, positivere Botschaft in sich trägt.

Was sind das für tolle Figuren, die vor allem in ihrem Zusammenspiel eine wundervolle Dynamik entfachen. Verschiedene Perspektiven und Sichtweisen brechen sich in der Rückschau auf alte Wunden, die für andere Glückserlebnisse sind: Marie denkt mit Grauen an ihre Jugend in Afrika zurück, mit einer größtenteils abwesenden, weil heroinsüchtigen Mutter, einem sexbesessenen Vater und der bitteren Armut und Not um einen herum, der man auch mit dem edelsten Willen keine Abhilfe schaffen konnte. Die naivere, aber lebensglücklichere Charlotte erinnert sich dagegen mit Freude an ihre Kindheit in Afrika und hat ihrer Mutter schon vor langer Zeit ihre Sünden verziehen.

Das Tolle an «Ein großer Aufbruch» ist auch, wie unaufgeregt diese Geschichte einer komplizierten Familie erzählt wird. Die Charaktere sind ehrlich bewegt (und teilweise am Rande ihrer emotionalen Kräfte) von dem, worüber sie sprechen und was sie dadurch noch einmal durchleben. Aber ihre Darsteller suchen das Heil nicht im Gebrüll, der Autor nicht im Dialogbaukasten der Allgemeinplätze und der Regisseur nicht bei den Krokodilstränen in der Nahaufnahme. «Ein großer Aufbruch» erzählt nahbarer, in einem sehr naturalistischen Duktus, der dem Film eine sehr authentische Wirkung verleiht. Geschonneck sucht in seiner Inszenierung die natürlichen Beiläufigkeiten, und Vattrodt scheut sich nicht, seine Figuren in ihrer bedrückenden Lage auch komische Momente erleben zu lassen.

Da sitzen also sieben Menschen in einem alten Bauernhaus und sprechen darüber, wie der Vater, Ex-Mann und alte Freund am Mittwoch in die Schweiz zum Sterben fahren wird. Und der redet auch noch eifrig mit. Natürlich ist diese Situation vollkommen absurd. So wie viele entscheidende Situationen in echten Lebensläufen auch. Aber vor allem ist sie sehr nahbar und unheimlich spannend und macht die Bühne frei für einnehmende Konfrontationen.

Bemerkenswert, dass am Schluss alle Figuren sympathisch sind, obwohl sie viele Charakterfehler haben. Holm ist ein sterbender alter Mann und man hat Mitleid mit ihm. Aber gleichzeitig ist er ein aufgeblasener, selbstgefälliger Typ. Marie nervt mit ihrem aufgesetzten Busy-Life-Getue. Und doch fühlt man mit ihr, wenn man daran denkt, was sie mit ihrer Familie so alles hat mitmachen müssen. Und so weiter und so fort.

Wie schön, dass dieses tolle, unaufgeregte und äußerst berührende Drehbuch mit seinem Cast eine stimmige Symbiose eingeht. Edgar Selge. Ina Weisse. Hannelore Elsner. Ulrike Kriener. Matthias Habich. Katharina Lorenz. Matthias Brandt. Diese Besetzung ist erstklassig – und auch sie fährt gerade in ihrem Zusammenspiel zu Höchstleistungen auf. Jeder von ihnen ist immer dann besonders gut, wenn er mit Kollegen arbeitet, deren Talent sich mit ihrem eigenen auf Augenhöhe befindet. Sie komplementieren einander, niemand stiehlt dem anderen die Show, und am Schluss besticht «Ein großer Aufbruch» gerade durch seine Eigenschaft als vollumfängliches Gesamtkunstwerk. Geschonneck, Vattrodt und ihrem Ensemble ist auch dieses Jahr wieder ein beeindruckender Film gelungen, der inhaltlich und künstlerisch in seiner ganz eigenen Liga spielt.

Das ZDF zeigt «Ein großer Aufbruch» am Montag, den 16. November um 20.15 Uhr.
15.11.2015 11:20 Uhr Kurz-URL: qmde.de/81902
Julian Miller

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Das Zeugenhaus Ein großer Aufbruch

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