Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 312: «netNite» - AltaVista, Netscape und eine TV-Show, die das Internet ins Fernsehen holen wollte.
Liebe Fernsehgemeinde, heute reisen wir an die Anfänge des digitalen Zeitalters zurück.
«netNite – Das Online Magazin» wurde am 07. Juni 1996 im ZDF geboren und entstand zu einer Zeit, als das Internet für die meisten Menschen in Deutschland wirklich noch Neuland war. Es war eine Zeit, in der 56k-Modems noch die Telefonleitungen blockierten, das Surfen nach Minuten berechnet wurde und Netscape der meistbenutzte Browser war. Eine Zeit noch lang vor Wikipedia, YouTube, Facebook und Quotenmeter.de und noch lang bevor Boris Becker dank AOL im Internet „drin“ war. Dennoch erkannte das öffentlich-rechtliche ZDF schon zu diesem Zeitpunkt das Potential der neuen Entwicklung und schloss einen umfangreichen Kooperationsvertrag mit Microsoft Network, um seinen Internetauftritt möglichst „schlicht, aber spielerisch“ optimieren zu können. Während die Anstalt selbst die Inhalte dafür lieferte, übernahm sie vom US-Unternehmen Technik, Software, Schulungen sowie das Design. Zu finden war das Ergebnis der umstrittenen Zusammenarbeit dann unter der Domain zdfmsn.de. Doch trotz aller Bemühungen und immerhin 500.000 Page-Views pro Monat, sollte (und durfte) das Angebot nicht allzu umfangreich ausfallen, sondern sollte laut Markus Schächter bloß eine „notwendige Ergänzung zum bestehenden Programmangebot“ bilden. Der Wagen in die Zukunft fuhr damit von Anfang an mit angezogener Handbremse.
Auch im Fernsehablauf fanden sich ab dieser Zeit verstärkt sinnvolle und weniger sinnvolle Hinweise auf das ergänzende Webangebot, wobei sich der Auftritt des Service-Magazins «WISO» schnell zur meistbesuchten Unterseite mauserte. Mit «netNite» rief man darüber hinaus ein spezielles Format ins Leben, das die wichtigsten Möglichkeiten der voranschreitenden Vernetzung erklären sollte. Jedoch bestand das ambitionierte Ziel nicht nur darin, diejenigen über Neuigkeiten zu informieren, die bereits einen Online-Zugang hatten und im Umgang mit diesem geübt waren. Vielmehr sollten ebenso Web-Neulinge ermuntert und behutsam an die neue Welt herangeführt werden. Damit versuchte die Redaktion genau jenen Spagat zu schaffen, an dem noch heute die meisten Computerfortbildungen scheitern, denn entweder fühlen sich die Anfänger überfordert oder die Experten langweilen sich. Eine Krux, die in der Sendung nie vollständig überwunden werden konnte.
So bot man regelmäßig Erklärungen typischer Begriffe, stellte wichtige Hardware-Komponenten und deren Bezugsquellen vor, erläuterte neue Telekom-Tarife und bot Listen von Internetcafés zum Abruf an. Dabei verfügte jede Ausgabe über einen thematischen Schwerpunkt, der sich mal um Erotik, mal um Datenschutz und Datensicherheit, mal um Shopping-Portale, mal um Reise-Informationen und mal um Nachrichtenangebote im Internet drehte. Im Juni 1997 stellte die Show unter dem Motto „n-Files – die unheimlichen Fälle im Online Magazin“ beispielsweise auch Seiten rund um «Akte X», Verschwörungen und Mystery-Phänomene vor. In einer der ersten Folgen wurde ferner ausführlich demonstriert, wie man seinen Mail-Server unter Netscape korrekt einrichtet und konfiguriert. Vorgestellt wurden die Informationen immer von einem passend zum Thema ausgewählten Gast - etwa Journalisten, Internetseiten-Betreiber oder ein Mitglied des Chaos-Computer-Clubs. Im Januar 1997 führte so auch der damalige Wettermoderator Jörg Kachelmann eine Reihe von Homepages vor, auf denen Wetterdaten, -karten und –prognosen zu finden waren. In der Regel standen die jeweiligen Gäste im Anschluss noch ein bis zwei Stunden im Chat zur Verfügung.
Vieles von dem, was das Team damals veranstaltete und als bahnbrechend vorstellte, wirkt aus heutiger Sicht eher niedlich, meist nostalgisch und zuweilen lächerlich. Schließlich lieferte noch manche Suche über AltaVista gerade einmal zwei Treffer, sorgte das Streamen von Audiodateien mithilfe von RealAudio für Erstaunen und war die Existenz von SpiegelOnline erst wenigen Menschen bekannt. Sogar vor dem Aufrufen von Videos wurde wegen der zu langen Ladezeiten ausdrücklich gewarnt. Diese Streifzüge durch das Internet waren von der Redaktion stets als eine virtuelle Anleitung aufgebaut, die von den Zuschauern zu Hause nachvollzogen werden sollte. Entsprechend lautete im Piloten die einführende Erläuterung für das potentielle Publikum folgendermaßen: „Auf unserer Reise durch die fast unendliche Welt der Datennetze, werden wir versuchen, eine Situation, wie Sie sie vielleicht von zu Hause kennen oder durch diese Sendung bald kennen lernen werden, zu simulieren. Das heißt, einer von uns beiden gibt eine Reiseroute vor und der andere wird versuchen, mit den Geräten, die wir mitgebracht haben, diese Reiseroute auch zu bestreiten. Und es gibt fast kein Thema, das wir nicht hier drin finden werden.“
In dieser Ankündigung wird der generelle Ton der Produktion schon deutlich, der entgegen des modernen Themas äußerst konservativ und bieder geriet. Offenbar wollte man die Erfahrungen nicht wiederholen, die das ZDF zwei Jahre zuvor mit
«X-Base» gesammelt hatte, als man versuchte, eine Reihe speziell für Computer-Kids zu kreieren. Diese war nämlich derart zwanghaft auf jung und cool gebürstet, dass sie extrem gestellt wirkte und die Jugendlichen geradezu verschreckte. Diese Gefahr bestand bei «netNite» wahrlich nicht mehr, allein durch die Verpflichtung von Thomas Aigner als Moderator. Zuvor hatte dieser die tägliche Spielshow «Hopp oder Top» bei Tele 5 präsentiert und sich nach deren Ende intensiv mit dem aufkommenden Internet beschäftigt. Seine Firma AME Aigner Media & Entertainment GmbH übernahm deswegen ebenfalls die Umsetzung und inhaltliche Betreuung des Projekts. Damit brachte Aigner ohne Zweifel die nötige Kompetenz und Erfahrung mit, ließ jedoch mit seiner braven Art und seinen wohlformulierten Texten ein markantes Charisma vermissen. Außerdem erinnerten seine Outfits mit Weste und Krawatte eher an Konfirmationen als an den Cyberspace. Positiv anzumerken ist allerdings, dass sich Aigner trotz seines umfangreichen Wissens andauernd als guter Gastgeber zeigte, sich nie in den Vordergrund spielte und seinen Gästen stets den Großteil der Redezeit überließ.
Wenigstens bildete seine Erscheinung eine symbiotische Einheit mit der restlichen Gestaltung der Sendung, die genauso wenig aufregend war, denn er und seine jeweiligen Surf-Begleiter saßen ausschließlich starr an einem Schreibtisch mit zwei riesigen CRT-Monitoren und sie klickten sich lediglich von einer Website zu nächsten. Man sah also anderen Menschen beim Surfen zu. Was bei Computerspielen unter Umständen unterhaltsam sein mag, ist aber beim Aufrufen von nützlichen Websites für ungefähr zehn Sekunden interessant. In einer Zeit bevor sich Let’s-Play-Videos etabliert hatten und im Vergleich zur sonstigen, lauten, hektischen und bunten TV-Ware der 90er Jahre wirkte dies kaum anziehend und nur selten telegen - erst recht, weil die gezeigten Seiten gestalterisch noch wenig attraktiv waren. Optisch war das gesamte Resultat damit ebenso spannungsvoll wie der Bildschirmschoner von Windows 98.
Ironischerweise stellte gerade dieses wenig ansprechende Zeigen von Webseiten das Team vor enorme technische Herausforderungen. Um die extrem langen Ladezeiten möglichst gering zu halten und das Aufrufen von Websites möglichst flüssig zu gestalten, mussten nämlich mehrere ISDN-Zugänge gebündelt und ein spezielles Gerät dazwischen geschaltet werden. Das funktionierte zwar in der Fernsehausstrahlung ganz gut, ließ jedoch wiederum viele Zuschauer darüber verzweifeln, wenn es bei ihnen viel schleppender voranging.
Die halbstündigen Episoden von «netNite» liefen zunächst in einem monatlichen Rhythmus in der Nacht von Freitag auf Samstag meist irgendwann zwischen Mitternacht und 1.00 Uhr und bewegten im Schnitt 270.000 Zuschauer zum Einschalten. Dies war angesichts der engen thematischen Ausrichtung, der spartanischen Umsetzung und der undankbaren Sendezeit kein allzu katastrophaler Wert, wenngleich die Marktanteile im Mittel bloß fünf Prozent betrugen. Ab März 1997 wurde das Format dann in die Dienstagnacht verlegt, wodurch die Reichweiten zwar stärker schwankten, im Durchschnitt aber auf über 300.000 Menschen anstiegen. Der Anteil der weiblichen Zuschauerinnen lag übrigens bei etwa 44 Prozent.
Vier Monate nach der Verlegung konnte das Team seine Aktivitäten erweitern und ging eine Partnerschaft mit der Computerzeitschrift c’t ein, die fortan den sogenannten „netSPEEDtest“ zulieferte, in dem die Übertragungsraten der wichtigsten Provider verglichen wurden. Zusätzlich setzte die «netNite»-Redaktion einen Newsletter auf, der in seiner Hochzeit über 24.000 Menschen wöchentlich ausführlich über aktuelle Neuerungen rund um das Thema Internet informierte. Dazu kamen mit den sogenannten „Surf-Nächten“ zweistündige Specials, die in unregelmäßigen Abständen in der Freitagnacht liefen. Waren die regulären Ausgaben meist Aufzeichnungen, was allein für das flüssige Aufrufen der Seiten nötig war, trauten sich Aigner und seine Kollegen nun live zu senden und in einen direkten Austausch mit dem Publikum zu gehen. Allerdings vergaßen sie offenbar, das eigene System gegen Angriffe abzusichern, sodass direkt die erste Surf-Nacht eine halbe Stunde vor dem Ende der Übertragung von Hackern lahmgelegt werden konnte.
Als Ende des Jahres 1997 die Verlängerung des laufenden Produktionsvertrages anstand, entschied sich das ZDF, die Reihe nicht fortzusetzen. Stattdessen schickten die Verantwortlichen rund anderthalb Jahre später das «Morgenmagazin»-Gesicht Cherno Jobatey in «zdf.de – Die Online-Nacht» mit einem recht ähnlichen Konzept auf dem Schirm. Die zweieinhalbstündigen Events – diesmal in Kooperation mit dem Print-Magazin „Tomorrow“ - gerieten hingegen deutlich weniger serviceorientiert und boten hauptsächlich skurrile Boulevard-Geschichten sowie Verweise auf die hausinterne Website. Ein (vermeintliches) Highlight versprach die Online-Nacht dennoch, denn mit Cornelia stand Jobatey eine virtuelle Co-Moderatorin zur Seite. Das wäre beachtenswert gewesen, wenn eine solche Figur nicht bereits im Jahr 1995 beim Gameklassiker
«Hugo» erstmals aufgetaucht wäre. Mehr als fünf Nächte sollte der Nachfolger nicht erleben.
«netNite» wurde am 16. Dezember 1997 beerdigt und erreichte ein Alter von 21 Folgen. Die Show hinterließ den Moderator Thomas Aigner, der mit seiner Firma eine Reihe anderer interaktive Radio- und Fernsehprojekte umsetzen konnte. Unter anderem war er für den Livestream der zweiten «Big Brother»-Staffel verantwortlich. Zuletzt übernahm er zahlreiche Lehrtätigkeiten an Bayerischen Hochschulen. Die nur leidlich funktionierende Idee, Internetseiten im Fernsehen zu zeigen, griff der alternde Entertainer Rudi Carrell im Jahr 2000 mit seiner kaum zu ertragenden Reihe
«Rudis Suchmaschine» abermals auf und konnte damit erneut kein großes Publikum finden. Übrigens, der zugehörige netNite-Newsletter bestand noch bis weit ins neue Jahrtausend hinein und führte zu einem Rechtsstreit darüber, ob er weiterhin den Titel der eingestellten ZDF-Sendung tragen durfte. Ja, das Gericht entschied, dass nach dem Ende der Ausstrahlung keine Verwechslungsgefahr mehr bestehen würde
Möge die Show in Frieden ruhen!
Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am Donnerstag, den 26. November 2015.