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Die Kritiker: «Tatort: Ihr werdet gerichtet»

Die neue «Tatort»-Saison beginnt! Zum Auftakt dürfen die Ermittler aus Luzern zeigen, was in ihnen steckt. Und die Saturn-Werbung dürfte man nach diesem Krimi mit ganz neuen Augen sehen!

Cast und Crew

  • Regie: Florian Froschmayer
  • Darsteller: Stefan Gubser, Delia Mayer, Antoine Monot jr., Sarah Hostettler, Misel Maticevic, Jean-Pierre Cornu, Aaron Hitz, Suly Röthlisberger
  • Drehbuch: Urs Bühler
  • Kamera: Patrick-David Kaethner
  • Szenenbild: Urs Beuter
  • Schnitt: Claudia Klook
  • Musik: Adrian Frutiger
Die jüngste «Tatort»-Saison beginnt mit einem Knall. Genauer gesagt sind es sogar zwei an der Zahl: Zwei Jugendliche werden mit einem Kopfschuss auf offener Straße exekutiert. Und das am hellichten Tag. Der Täter kann mit seinem schwarzen Van fliehen. Doch ausnahmsweise heftet der Zuschauer nicht den Ermittlern an den Fersen und verfolgt ihre Spurensuche, während derer nach und nach die Identität des Täters enthüllt wird. Stattdessen klemmt sich die Kamera zunächst an den ominösen Van, zeigt, wer in dem Gefährt sitzt und auf die Heranwachsenden geschossen hat. Erst danach vereint sich das Publikum mit den Kommissaren, so dass er durch ein regelmäßiges Wechseln zwischen der Seite der Guten und der Bösen anderen Fragen nachgehen kann als dem schlichten Rätsel: „Wer war es?“ Viel mehr dreht sich alles um das „Wieso?“ und die Frage „Was geschieht noch?“

Garniert wird die angespannte Mixtur aus Psychodrama und Kriminalthriller mit blutiger Gewalt, die die Grenzen der Primetimetauglichkeit auslotet, sowie mit beiläufig vermittelter Kritik an der öffentlichen Wahrnehmung des Schweizer (aber im Grunde genommen des deutschen) Rechtssystems. Die zentrale Säule dieses Neunzigminüters ist Antoine Monot jr., der kraftvoll gegen die öffentlich-rechtliche Klischeedarstellung eines Serientäters anspielt. Monot jr. legt den Scharfschützen Simon Amstad weder als einen eiskalten Berufskiller oder widerwilligen Auftragsmörder an, noch als empathielosen Psychopathen.

Amstad ist endlich einmal ein Fernsehkiller, über den andere Figuren glaubhaft sagen können: „Er ist ein guter Mensch.“ Wenn Monot jr. wenige Filmminuten nach seiner brutalen Tat beim Bäcker steht und sich voller Coolness sowie Witz mit der Bedienung gegen einen lästigen Kunden verbrüdert, sind im Sympathiepunkte und Lacher gewiss. Und wenn er mit hilflosen Augen neben seiner kaum aus dem Bett zu bekommenden, deprimierten Frau steht, der aufgrund der Schandtaten ihres Chefs jeglicher Appetit vergangen ist, hat er auch das Mitleid des Zuschauers sicher. Plausibel und facettenreich zeichnet Monot jr. auf Basis des feingliedrig charakterisierenden Drehbuchs einen Mann im besten Alter, dessen Umfeld zwar wahrlich nicht das allerbeste Schicksal durchgemacht hat, der selbst aber stabil, freundlich und humorvoll geblieben ist. Ohne sichtbar angeknackste Seele … Bis er dann eben ganz alleine ist und mit mechanischer Präzision seine nächsten Mord vorbereitet – oder er aufgrund eines Fehlschlags sehr wohl flattrige Nerven beweist. Monots leichtgängigen Elektromarkt-Werbespots gucken sich nach diesem «Tatort» mit ganz anderen Augen!

Durch die komplexe Figur des Simon Amstads drängt Drehbuchautor Urs Bühler im neunten «Tatort» aus Luzern listig die Zuschauer dazu, ihre eigene Position gegenüber Selbstjustiz zu hinterfragen. Die „Lasst das Volk doch selber das Recht in die Hand nehmen!“-Mentalität im Volke zu demontieren, indem ein Monstrum mit der Waffe das Urteil fällt, ist eine im TV gern gewählte, aber all zu simple Lösung. In diesem Krimi jedoch ist es sehr einfach, dem bärtigen Sniper zu verfallen und mit ihm mitzufiebern – umso größer ist dann der „Ertappt! Du befürwortest gerade einen Mörder“-Effekt, wenn die Geschichte wieder die Sicht der Polizei einnimmt und die schrecklichen Aspekte des Vigilantismus einfängt.

Regisseur Florian Froschmayer entschied sich, diesen «Tatort» ohne größere inszenatorische Eigenheiten zu erzählen (siehe auch unser Interview mit dem Fernsehmacher). Obwohl große Teile der Geschichte dem Täter gewidmet sind und die Attentate sehr drastisch gezeigt werden, übt sich Froschmayer nicht in grantiger Düsternis, und ebenso wenig unterstreicht er die tragische Note der Geschichte durch eine poetische Bildsprache. Dieser «Tatort» aus Luzern ist handwerklich zwar absolut kompetent gemacht, stilistisch aber weitestgehend unauffällig – eine Regieentscheidung, die «Ihr werdet gerichtet» auf den ersten Blick alltäglich erscheinen lässt. Über die gesamte Laufzeit hinweg entfaltet der 'anonyme' Stil aber seine Wirkung, denn ohne stilistischen Schwerpunkt hallen die actionreichen, die dramatischen und die spannenden Momente gleich stark nach und die Aufmerksamkeit wird subtil weg von der Machart, hin zu den Schauspielern gelenkt. Neben Monot jr. prägt dahingehend vor allem Stefan Gubser als Reto Flückiger diesen Fall: Praktisch von Minute zu Minute wird er aufgebrachter, bis im dramatischen Gänsehaut-Finale mal nicht die Frage „Wie kriegen die Guten den Täter zu fassen?“ im Vordergrund steht, sondern pure Emotion.

Bloß musikalisch fällt dieser «Tatort» auch abseits des Inhalts aus dem Rahmen: Adrian Frutiger untermalt das Geschehen mit treibenden, kühlen Elektronikbässen. Diese nehmen eingangs Überhand, wenn die Ermittler alte Überwachungsvideos sichten, treffen dafür aber gerade im letzten Drittel genau den richtigen Nerv. Und daher knallt der erste «Tatort» der neuen Saison nicht nur zu Beginn, er bleibt auch bis zum Schluss ein echter Knaller. So viel also zu den „spröden Schweizern“ ..!

«Tatort: Ihr werdet gerichtet» ist am 6. September 2015 ab 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.
03.09.2015 17:33 Uhr Kurz-URL: qmde.de/80558
Sidney Schering

super
schade


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