Ein deutsches Thrillerdrama, das Erinnerungen an Lars von Trier weckt: «Tore tanzt» regt zum Denken an, geht unter die Haut und besticht mit starken Performances.
Filmfacts «Tore tanzt»
- Regie und Drehbuch: Katrin Gebbe
- Produktion: Verena Gräfe-Höft
- Darsteller: Julius Feldmeier, Sascha Alexander Gersak, Annika Kuh, Swantje Kohlhof, Til-Niklas Theinert, Daniel Michel
- Musik: Johannes Lehniger, Peter Folk
- Kamera: Moritz Schultheiß
- Schnitt: Heike Gnida
- Laufzeit: 110 Minuten
- FSK: ab 16 Jahren
Unerschütterlicher Glaube an Gott und das Gute im Menschen – ein hehrer Charakterzug oder eine fatalistische Einstellung? Dieser Frage geht die Hamburger Regisseurin Katrin Gebbe in ihrem Langfilmdebüt «Tore tanzt» nach. Und schafft somit einen sich bewegenden Rorschachtest über Gottesfürchtigkeit und Weltanschauung: Die Autorenfilmerin überlässt es ganz dem Betrachter, ob die titelgebende Figur durch ihren Leidenswillen ein moderner Heiliger mit beneidenswerten Nerven ist oder ein weltfremder Naivling, der sich sein Elend nur selber eingebrockt hat.
Tore ist fest entschlossen, sein Leben nach den christlichen Regeln zu leben. Aber als er einer Familie begegnet, die wegen einer Panne auf einer Autobahnraststätte gestrandet ist, trifft er eine fatale Entscheidung: Er hilft ihnen aus der Patsche, schließt sich ihnen an und schwört sich, für den empathielosen Benno und dessen Familie da zu sein. Als er mehr und mehr ausgenutzt wird, beantwortet er dies mit wachsender Zuvorkommenheit. Diese entfacht im neuen Umfeld des Lockenkopfs aber noch heftigere Abneigung – jegliches Mitgefühl verschwindet und alle machen sich eine Freude daraus, Tores Leidensfähigkeit zu testen …
Das geistreiche Thrillerdrama war 2013 in der Sektion 'Un Certain Regard' der Filmfestspiele von Cannes vertreten und obendrein in jenem Jahr der einzige Repräsentant der deutschen Kinokunst auf diesem prestigeträchtigen Festival. Diese Ehre haben sich diese 110 Minuten Gänsehaut auch redlich verdient, denn Gebbe gelingt es, den Betrachter nahezu allein mit seinem Innenleben zu lassen. Ein wahres Kunststück, ist das Filmmedium doch eines, das wie geschaffen ist für emotionale Inszenierung – fällt dieses Element weg, bricht das Gesamtwerk häufig genug in sich zusammen. In «Tore tanzt» ist die Kälte und Direktheit Gebbes dagegen eine tragende Säule. Nie heucheln sanft-tragische Melodien oder romantisch angehauchte Bilder Mitleid, ebenso wenig schlagen die gestalterischen Aspekte ins Gegenteil um und verdammen Tores Handeln, heben ihn zum Mahnmal, zum schlechten Vorbild empor.
Das einzige Gefühl, das Gebbe zulässt, ist Beklommenheit. Und auch dieses erschleicht sich die Regisseurin nicht. Denn der Löwenanteil dieser in die Kapitel 'Glaube', 'Liebe' und 'Hoffnung' gegliederten Erzählung kommt in nüchternen Bildern daher. Vornehmlich mit natürlichem Licht und unsteter, aber keineswegs hektischer Handkamera gedreht – und daher ist «Tore tanzt» in einem dokumentarischen Licht gekleidet. Somit ist das geschilderte Grauen frei von stilistischen Überhöhungen und wertenden Elementen, dafür umso näher und drastischer. Solch eine 'authentische' Herangehensweise ist angebracht, wenn Gebbe doch die in der heutigen Gesellschaft strittig diskutierte Jesusfigur anreißt und ihrem Publikum zutraut, in sich selbst zu gehen, das Gebotene zu hinterfragen und ein eigenes Urteil zu fällen. Sei es letztlich ein eindeutiges oder ein komplexes Urteil. Dass Gebbe von einem dokumentierten, realen Fall inspiriert wurde, untermauert die Dringlichkeit eines prosaischen Folterfilms zusätzlich.
Selbstredend reicht allein eine treffend gewählte, konsequent umgesetzte Form (die wenigen, träumerisch gestalteten Sequenzen rütteln zu Beginn und zum Schluss von «Tore tanzt» effektiv wach) nicht aus. Jedoch fängt Kameramann Moritz Schultheiß in seinen provokant direkten, ungekünstelten Bildern Darbietungen ein, die sich festzementieren – und genau deswegen geht «Tore tanzt» vollkommen auf. Newcomer Julis Feldmeier besticht als argloser, unfassbar geduldiger Glaubender, der seiner Gastfamilie beisteht, egal, wie sehr sie ihren Sadismus an ihm auslebt.
Mit missionarisch motivierter Gehorsamkeit schafft er es, dass Tore nicht unwirklich erscheint – ganz gleich, ob man sein Handeln gutheißt oder nicht. Swantje Kohlhof derweil ist als Teenie-Tochter Swanny gewollt schwer einzuordnen: Sie scheint Tores einziger Lichtblick zu sein und daher ein Quell der Reinheit in ihrer verkorksten Familie – und dennoch ist sie distanziert. Sascha Alexander Gersak als Tyrann Benno und Gattin Astrid (Annika Kuhl) unterdessen steigern sich – ohne sich in theatraler Boshaftigkeit zu suhlen – in ihre Niedertracht hinein und verleihen «Tore tanzt» somit seine peinigende Qualität.
Wenn dann mit lärmenden elektrischen Beats das Ende hereinbricht, hinterlässt dieser wuchtige Film Fragen, aufgewühlte Gefühle und Erinnerungen an so einbrennende Szenen wie Tores Lebensmittelfolter durch die zuvor so einsichtige Astrid. Provokant, stark gespielt, anspruchsvoll und dank seiner schneidenden Spannung dennoch völlig unprätentiös – wer sich für wegweisendes Kino aus Deutschland interessiert, muss diesen Film sehen!
«Tore tanzt» ist in der Nacht von Montag, dem 29. Juni, auf Dienstag, den 30. Juni, ab 0.10 Uhr im ZDF zu sehen.