Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 308: «Power Vision» - Ein „musikalisches Beben“, bei dem sich die Top-Acts der damaligen Zeit im aufblasbaren „Kampfstern Galactica“ versammelten.
Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir einer Reihe, mit der das ZDF nach Angaben des damaligen Unterhaltungschefs Axel Beyer seine „frühere Kompetenz in Sachen Musik wiederbeleben" wollte.
«Power Vision» wurde am 24. November 1995 im ZDF geboren und stellte einen ambitionierten Versuch des Kanals dar, seinem negativen Ruf als Senioren-Anstalt entgegenzuwirken. Ein seit Jahren existierender Vorwurf, der vor allem durch den damaligen RTL-Chef Helmut Thoma neues Feuer erhielt, weil dieser seinen Konkurrenten öffentlich als „Kukident-Sender“ beschrieb. Tatsächlich lag der Altersdurchschnitt der ZDF-Zuschauer zu jener Zeit mit etwa 54 Jahren deutlich über dem der Privatsender (ca. 43 Jahre). Zugleich betrug der durchschnittliche Marktanteil bei den unter 30jährigen lediglich fünf Prozent. Sicherlich war ein solch direkter Vergleich unfair, weil ein öffentlich-rechtlicher Anbieter die gesamte Bevölkerung und nicht allein eine spezielle Zielgruppe ansprechen durfte. Trotzdem schienen die Verantwortlichen ebenso eine Verjüngung des Programms für angezeigt zu halten. Doch wie konnte es gelingen, mehr Relevanz beim jungen Publikum zu gewinnen?
Eine Lösung war scheinbar schnell in der naheliegenden Erkenntnis gefunden, dass für Jugendliche Musik einen wichtigen Stellenwert hat. Deswegen, so die simple Schlussfolgerung, wäre es nur nötig, genau die Hits zu zeigen, welche die jungen Menschen bevorzugen würden. Aus diesem zunächst allzu schlichten und kalkulierten Ansatz entwickelte sich allerdings ein ernstgemeintes und ehrgeiziges Vorhaben. Immerhin wurde extra für diese Absicht innerhalb der Hauptredaktion Show eine neue Unterabteilung gegründet, deren Leitung der langjährige Mitarbeiter und Philosoph Dr. Arnd Grötz übernahm. Auf ihn war die Erfindung der Dachmarke «Power Vision» zurückzuführen, mit der man verstärkt die Gruppe der 14- bis 25jährigen – oder wie Dr. Grötz es formulierte: „die Trendsetter in der Gesellschaft“ - anvisieren wollte.
Entsprechend euphorisch umriss er die mit dem Format angestrebten Ziele: "Mit «Power Vision» will das ZDF ein Zeichen setzen. «Power Vision» ist der Versuch, mit neuen Sendeformen neues Fernsehen zu machen, mit mehr Humor in allen Sendungen und vor allem mit mehr Musik. Wir wollen ein Gefühl der Jugendlichkeit, der Attraktivität und Frische in dieser Sendung.“ Im Zentrum jener Bemühungen standen große Live-Konzerte, für die regelmäßig die aktuell beliebtesten Künstler engagiert werden sollten. Im Idealfall, hoffte Dr. Grötz, bedeutete dies den „Beginn einer wöchentlichen Reihe, die beispielsweise jeden Freitag um Mitternacht gesendet werden könnte.“ Nichts weniger als ein „musikalisches Beben“ versprach daher der offizielle Pressetext für die ersten Veranstaltungen.
Als Austragungsort für die anstehenden Spektakel diente eine eigens dafür erbaute transportable, aufblasbare Hi-Tech-Halle namens „MediaDrom“, die bis zu 4.000 Menschen und zwei Bühnen beherbergen konnte. Nötig wäre diese deswegen gewesen, um durch ganz Deutschland touren zu können, da es insbesondere in den damals noch neuen Bundesländern kaum geeignete Hallen gegeben hätte. Jedoch löste das eigentümliche Gebilde nicht nur positive Reaktionen aus. Das Musikmagazin „Rolling Stone“ beschrieb es beispielsweise als „eine Kreuzung zwischen Kampfstern Galactica und diesen Hüpfburgen […], in denen bei Pfarrfesten herumgehopst wird.“
Für den Auftakt wurde die Halle auf dem ehemaligen US-Flugplatz in Mainz-Finthen aufgebaut, wo innerhalb weniger Tage gleich vier Konzerte - fein säuberlich nach musikalischen Sparten getrennt - stattfanden. Etwa traten unter dem Titel „Deutsch pur“ und der Anleitung von Kai Böcking an einem Abend ausschließlich deutschsprachige Interpreten wie Pur, Schwester S, Udo Lindenberg, Illegal 2001, BAP und Groove Minister auf. Bei einem zweiten Event zum Thema „Alternative Rock“ reisten die Gitarren-Acts Clawfinger, Waltari, Heroes Del Silencio, Fury In The Slaughterhouse, Selig, Such A Surge, The Bates sowie die damalige Newcomerin Alanis Morissette an. Zwischen den Live-Auftritten gab es zusätzlich kurze Features, Interviews und News, welche die Zeitschrift Musikexpress zulieferte. Durch diesen in der Presse am wohlwollendsten aufgenommenen Gig führten die Musiker Hilko Meyer und Trini Trimpop (Gründungsmitglied der Toten Hosen).
Während bei den oben erwähnten Konzerten neun bis zehn Bands jeweils etwa vier Songs aufführten und diese komplett live spielen mussten, verhielt es sich bei der Ausgabe „Dancecharts“ anders. An diesem Abend jagte die Redaktion nämlich stolze 20 Acts aus dem Techno- und Eurodance-Bereich über die zwei Bühnen, die zudem ausnahmslos Auftritte im Vollplayback absolvierten. Gleichwohl (oder gerade deswegen) kann diese Ausgabe als die markanteste eingestuft werden, weil sie rückwirkend betrachtet, den Zeitgeist der Generation Love Parade am besten einfing. Dies lag nicht zuletzt an dem beeindruckenden Line-Up, das mit Charlie Lownoise & Mental Theo, Dune, Captain Hollywood, Masterboy, Paul Elstak, T-Spoon, Just Friends, 2 Brothers On The 4th Floor, Magic Affair, The Real McCoy, Worlds Apart, Daisy Dee, Culture Beat, DJ Quicksilver, N-Trance, RNB und Scooter nahezu alle damals wichtigen Dance-Projekte im MediaDrom versammelte.
Dort boten sie dann all das, was die 90er Jahre aus heutiger Sicht ausmachte: Sinnfreie Texte mit einfach-gestrickten Melodien zu donnernden Beats. Dazu spulten bauchfreie Girlies, die sich in hautengen Leggins um die männlichen DJs und ihre überflüssigen Plattenpulte rekelten, ihre anzüglichen, aber unmotivierten Choreographien ab. Exzessive Strobo-Lights, wackelnde Kameraeinstellungen und extrem-rasante Schnitte sorgten für das passende Umfeld. Kurz, es war bunt, grell und herrlich trashig. Sowohl vom Inhalt als auch der Art der Inszenierung glich all dies der MDR-Show
«Dance Haus» zum Verwechseln. Schließlich tingelten dort bereits seit etwa einem halben Jahr exakt die selben Künstler in den verschiedenen mitteldeutschen Großraumdiskos umher. Somit war es bloß konsequent, dass mit Nils-Uwe Geyer derselbe Ansager für die ZDF-Variante verpflichtet wurde.
Als viertes Ereignis zeichnete man noch eine Oldie-Show mit Thomas Ohrner auf, die vom Musik-Journalisten Stefan Nink als „ein Veteranentreff altgedienter Bubblegum-Haudegen“ charakterisiert wurde. Dabei habe es sich gemäß Dr. Grötz eher um eine Ausnahme gehandelt, denn „wir konzentrieren uns schon auf ein junges Publikum, das auch live vor Ort mitgeht.”
Allen Bemühungen und allem Aufwand zum Trotz schien sich die erhoffte „livehaftige Konzertatmosphäre“ nicht auf das Fernsehvolk übertragen zu haben, wie sich anhand der überschaubaren Sehbeteiligungen für alle Folgen vermuten ließ. Die zweistündige Premiere mit den deutschsprachigen Hits schalteten am Freitagabend (24. November) ab Mitternacht durchschnittlich nur 0,27 Millionen Menschen ein, woraus sich ein Marktanteil von 5,5 Prozent ergab. Mit lediglich 0,30 Millionen Rock-Fans sowie einem Marktanteil von 3,7 Prozent erzeugte das Alternative-Special eine Woche später ähnliche Werte. Direkt im Anschluss, also mitten in der Nacht, wurden dann die Eurodance-Hits versendet. Dennoch ließen Scooter & Co zwischen 02:00 und 05:00 Uhr im Schnitt rund 100.000 Menschen einschalten. Durch die späte Ausstrahlung lag wenigstens der Marktanteil knapp an der Grenze zur Zweistelligkeit. Die Oldie-Party, die letztlich den Namen „Die Fete“ erhielt, flimmerte erst am 17. Februar 1996 über die Bildschirme und erzielte am späten Samstagabend mit 0,58 Millionen Zuschauern bezeichnenderweise die höchsten Messwerte.
Angesichts dieser ernüchternden Ergebnisse nahmen die Verantwortlichen von der angekündigten Fortsetzung des Formats bald Abstand. Die vier erwähnten Konzerte sollten damit die einzigen echten «Power Vision»-Veranstaltungen bleiben. Komplett beerdigt war die Marke jedoch noch nicht, weil die vier Events in den folgenden Monaten mehrfach am Stück oder als Zusammenschnitt wiederholt wurden. Außerdem kooperierte das ZDF unter diesem Label anschließend mit dem privaten Anbieter Radio Regenbogen und präsentierte mehrere gemeinsame Pop-Konzerte in Mannheim und Karlsruhe. In den sogenannten „Hot Summer Nights“ in den Jahren 1996 und 1997 sowie auf der „Fete 1997“ waren Interpreten wie Mr. President, DJ Bobo, E-Rotic, Masterboy, Fun Factory, Tic Tac Toe, Culture Beat, Foolsgarden, Right Said Fred, Caught In The Act und die Backstreet Boys zum Teil mehrfach zu Gast. Angesagt wurden diese nunmehr von der Radio-Regenbogen-Stimme Mike Diehl. Dies waren dann die letzten Lebenszeichen, die es von «Power Vision» gab. Ab Oktober 1996 hatte das ZDF mit «Chart Attack» nämlich schon ein neues Musikprogramm an den Start gebracht, unter deren Label die Zusammenarbeit mit der Radiostation fortgesetzt werden konnte.
Das ursprüngliche Konzept von «Power Vision» wurde damit am 17. Februar 1996 beerdigt und erreichte ein Alter von vier Folgen. Allerdings führte man noch bis zum 31. Juli 1997 lebensverlängernde Maßnahmen durch, die den Patienten aber nicht retten konnten. Die Reihe hinterließ den verantwortlichen Leiter Dr. Arnd Grötz, der noch bis zum Jahr 2013 beim ZDF für den Bereich Hallenveranstaltungen zuständig war, bevor er die Leitung der hausinternen Clearingstelle übernahm. Der letzte Gastgeber Mike Diehl heizt mittlerweile als Stadionsprecher die Anhänger vom TSG 1899 Hoffenheim an. Indessen ist der aufblasbare MediaDrom nach Aussagen der ZDF-Pressestelle vom Architekten zunächst eingelagert, mehrfach verkauft und zuletzt am Hamburger Hafen aufgestellt worden. Übrigens, zur Verjüngung hat die Aktion am Ende nicht beigetragen. Innerhalb der nachfolgenden zehn Jahre stieg das Durchschnittalter der ZDF-Stammzuseher weiter auf 58 Jahre an. (Das war natürlich auch mit dem demografischen Wandel zu begründen.)
Möge die Show in Frieden ruhen!
Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am Donnerstag, den 30. Juli 2015.