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Sechzig Minuten Atmosphäre

Die Kritiker: Auf Festivals ist der Sechzigminüter «Fremdkörper» ein voller Erfolg. Zurecht, wie Frederic Servatius findet.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Thorsten Merten («Sushi in Suhl») als Wolfgang Kruber, Janina Elkin («Stille Nacht») als Irina, Ivan Svedoff als Pjotr, Sevket Süha Tezel als Hamit, Gizem Soysaldi-Karabey als Aydan, Muhammet Ali Civak als Kaya, Zeynel Cem Kilic als Dr. Akgul


Hinter den Kulissen:
Regie: Christian Werner, Buch: Sebastian Heeg und Christian Werner, Musik: Denise Barth und Marcel Walter, Kamera: Eva Katharina Bühler, Schnitt: Robert Stuprich, Produktion: Venice Pictures Produktion

Dass im deutschen Free-TV Filme von 60 Minuten Laufzeit zu sehen sind, ist alles andere als alltäglich. Das mag mit Sicherheit auch daran liegen, dass nicht unbedingt die Mehrheit der Filme in dieser Länge hergestellt wird. Echte Cineasten kennen zwar gewiss doch einige Werke, die unter der üblichen Spielfilmlaufzeit liegen; im frei empfangbaren Fernsehen aber findet sich so etwas doch eher selten. Umso schöner, dass das ZDF im Rahmen des kleinen Fernsehspiels auf eine Produktion setzt, die dieses Kriterium erfüllt. Auf den Namen «Fremdkörper» hört das entsprechende Werk. Wirklich mutig ist die Entscheidung aber insofern nicht, als der Film bereits auf einigen Festivals gelaufen ist und jeweils gut ankam. Beim Filmfestival Max Ophüls Preis wurde er in der Kategorie mittellanger Film beispielsweise lobend erwähnt. Wenig mutig ist zudem auch die Sendezeit: In der Nacht von Montag auf Dienstag ab 23.55 Uhr läuft die Produktion. Primetime ist das nicht gerade, was wohl mitunter auch an der schwierigen Thematik liegt: Es geht um die illegale Organtransplantation. Wahrlich keine leichte Kost.

Zwischen 10.000 und 20.000 Nieren werden jedes Jahr illegal transplantiert. Genau das erklärt eine Einblendung zu Beginn des Films. Auf dieser Makro-Ebene bleibt die Produktion aber nicht. Viel mehr erzählt sie die Geschichte zweier Einzelschicksale. Die Ukrainerin Irina wohnt in Istanbul, weit weg von ihrer kleinen Tochter. Weil sie finanzielle Probleme hat und ihre Tochter gerne öfter sehen würde, entscheidet sie sich, die Reise ins kosovarische Priština anzutreten, wo man ihr anbietet, eine Niere gegen 10.000 Dollar einzutauschen. Der 50-jährige Wolfgang hingegen ist seit Jahren krank, auf eine Niere in seiner Heimat allerdings wartet er vergeblich. Deshalb geht er ins Ausland, um dort illegal ein neues Organ zu bekommen.

Dichte Atmosphäre, bewusst gewählte Ruhe
Nach der erfolgreichen Operation will er, nun in Istanbul, eigentlich zurück in die Heimat, doch ein Erpresserbrief hält ihn auf: Irina fordert 10.000 Euro. Schnell führt ihr gemeinsames Schicksal Wolfgang und Irina zusammen. Die Ukrainerin erklärt ihm, dass sie ihr Geld nie gesehen hätte und will deshalb Ersatz vom Empfänger. Der allerdings weigert sich zunächst, schließlich hätte sich Irina selbst auf die Operation eingelassen. Auch als sie Wolfang ihre Narbe zeigt, bleibt dieser zunächst hart und lässt sich von einem Taxi in Richtung Flughafen chauffieren. Doch wie es zu erwarten stand, kehrt der Mann zu seiner Spenderin zurück. Weil er maximal 5000 Euro an einem Tag abheben kann, ist es ihm aber nicht möglich, Irina einfach kurz das Geld zu überreichen und geschwind wieder abzuhauen. So sind die beiden gezwungen, Zeit miteinander zu verbringen – und bauen so ein zumindest spannendes, aber nicht spannungsfreies Verhältnis auf.

In der Erzählweise zeichnet «Fremdkörper» eine starke Ruhe aus. In vielen Momenten, gerade zu Anfang, wird wenig gesprochen und auch die musikalische Untermalung hält sich in diesen Sequenzen sehr stark zurück. Oft passiert nicht einmal optisch besonders viel. Diese bewusste Reduzierung ist bestens umgesetzt und sorgt für eine intensive Stimmung. Zwar sind es ein paar Schauplätze, an denen der Film stattfindet. Durch die atmosphärische Verdichtung allerdings wirkt «Fremdkörper» fast kammerspielartig intensiv. Nicht nur, weil der Film in der Türkei spielt, fühlt man sich als Zuschauer an Werke von Fatih Akin erinnert. Zwar zeigt Regisseur Christian Werner nicht so drastische Bilder wie es Akin oft tut, in der sonstigen Tonalität aber, kann der Zuschauer Gemeinsamkeiten nicht ignorieren. Allein die düstere Optik spricht hier eine klare Sprache. Damit zeigt Werner auch, wie wandelbar er in seiner Arbeit ist. So weist sein Kinofilm «Kaiserschmarrn» aus dem Jahre 2013 zwar keine leuchtend strahlenden Farben auf, die Tonalität allerdings ist doch völlig anders.

Probleme zwischen den Protagonisten gibt es nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene, sondern auch auf sprachlicher. Die Sprachlosigkeit spiegelt sich entsprechend in der durchgehend anzufindenden Ruhe wider. Das eher mäßige Englisch des Protagonisten ist dabei ein entscheidender Aspekt, weshalb Darsteller Thorsten Merten in seiner Figur als Wolfgang äußerst authentisch wirkt. Damit bringt er den Zuschauer mitunter auch zum Schmunzeln, zum Beispiel wenn er das Wort Immunsystem mit „System of Health“ übersetzt. Mertens Spiel ist insgesamt überaus gelungen, gleiches gilt für seine Gegenspielerin Irina (Janina Elkin). Dabei ist es neben emotionalen Momenten vor allem die Gefühlskälte, die immer wieder beide Hauptdarsteller auszeichnet.

Gelungener, aber nicht unerwarteter Twist


Auch der finale Plottwist darf als äußerst gelungen betrachtet werden. Das Finale ist vor allem sehr abrupt, zugleich aber fühlt sich der Zuschauer verloren. Das aber ist auch genau, was erreicht werden soll. Die letzten Sekunden wirken gerade dadurch genial. Besonders der letzte Satz sitzt auf den Punkt genau und lässt die Verzweiflung, die in der Situation steckt, direkt vor den Schirmen ankommen. Man wünscht sich, dass die gesamte Spannung, die sich in der dichten Atmosphäre des Films aufgeladen hat, mit dem Finale abfällt. Tut sie aber nicht. Sie fesselt über den Abspann hinaus.

Die Betrachtung der komplexen Thematik auf der Mikroebene ist als Darstellungsform mehr als gelungen gewählt. Auch der Kontrapunkt, der durch den faktischen Hintergrund zu Beginn gesetzt wird, trägt dazu bei. Die Spannung zwischen den Figuren ist durchweg spürbar, aber auch die gesamtgesellschaftliche Problemstellung, wird dem Zuschauer bewusst gemacht. Spannungsgeladen, schwermütig und gut ist der Film, vor allem aber intensiv. Aus gutem Grund setzt man beim ZDF also auch mal auf einen kürzeren Film. Einziger Wermutstropfen: Die Sendezeit.

Den Film «Fremdkörper» zeigt das ZDF am Montag, 22. Juni um 23.55 Uhr.
21.06.2015 11:11 Uhr Kurz-URL: qmde.de/78911
Frederic Servatius

super
schade


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Fremdkörper Istanbul Kaiserschmarrn Kleines Fernsehspiel Kurzfilm Niere Organ Transplantation Türkei ZDF Öffentlich-Rechtlich

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