Tom Hardy und Gary Oldman suchen in der Sowjetunion unter Stalin einen Kindsmörder. Kann «Kind 44» aus seiner Prämisse Spannung schröpfen?
Filmfacts «Kind 44»
- Regie: Daniel Espinosa
- Produktion: Ridley Scott, Michael Schaefer, Greg Shapiro
- Drehbuch: Richard Price, basierend auf dem Roman von Tom Rob Smith
- Darsteller: Tom Hardy, Gary Oldman, Noomi Rapace, Joel Kinnaman, Jason Clarke, Vincent Cassel
- Musik: Jon Ekstrand
- Kamera: Philippe Rousselot
- Schnitt: Dylan Tichenor
- Laufzeit: 137 Minuten
- FSK: ab 16 Jahren
Ursprünglich wollte Ridley Scott das Filmprojekt «Kind 44» leiten. Dann verließ er aber den Regieposten. Stattdessen verfilmte ein chilenisch-schwedischer Regisseur den in Stalins Sowjetunion spielenden Bestseller eines britischen Romanautoren – all dies wurde mit US-amerikanischem, britischem, tschechischem und rumänischem Geld bezahlt. Und wurde in Russland unmittelbar nach den ersten Pressevorführungen zurückgezogen. Kurzum: Die Hintergrundgeschichte von «Kind 44» ist äußerst spannend. Viel spannender als der eigentliche Film. Denn trotz einer sorgfältigen Ausstattung und einer atmosphärischen Kameraarbeit durch Philippe Rousselot, der vornehmlich auf kontrastarme, dunkle Farben setzt, vermag es der 137-minütige Film nicht, Suspense aufzubauen. Und auch seine Aussagen über die stalinistische Ära der Sowjetunion sind zwar kompromisslos harsch, jedoch auch eintönig und somit längst nicht so erhellend, dass sie allein die gesamte Laufzeit tragen könnten.
Wir schreiben das Jahr 1953. Obwohl sich die Regierung damit rühmt, dass es im Arbeiterparadies der Sowjetunion keine Verbrechen gibt, lässt sich niemals der gegenteilige Gedanke abschütteln. Die Gefahr scheint stets hinter der nächsten Ecke zu lauern, insbesondere der willkürliche Tod schwebt über dem kommunistisch regierten Gebiet. Der gefeierte Kriegsheld Leo Demidow (Tom Hardy), der sich als Geheimdienstoffizier einen respektablen Namen erarbeitet hat, glaubt dennoch fest an die Doktrin, dass es keine Mörder in der Sowjetunion gibt – bis eine grausam zugerichtete Leiche gefunden wird. Es ist der Sohn eines befreundeten Offiziers und es ist ganz offensichtlich, dass der Junge einem Verbrecher zum Opfer fiel. Generalmajor Kuzmin (Vincent Cassel) aber deklariert es als Unfall. Leos Welt gerät ins Wanken, erst recht, da seine Frau Raisa (Noomi Rapace) als Verräterin verleumdet und er somit in eine Zwickmühle gedrängt wird: Eliminiert er sie, obwohl er genau weiß, dass sie unschuldig ist, oder stärkt er ihr den Rücken und widersetzt sich somit der Obrigkeit?
Drehbuchautor Richard Price, der unter anderem das Skript zu Martin Scorseses «Die Farbe des Geldes» verfasste, entschloss sich, seine Adaption des Erfolgsromans von Tom Rob Smith nicht direkt mit der titelgebenden Kriminalgeschichte zu eröffnen. Bevor sich Leo Demidow unter den kritischen Augen des Milizanführers Nesterow (Gary Oldman) auf die Suche nach dem Serien-Kindsmörder macht, führt Price ausführlich den Hintergrund seines Protagonisten ein, ehe er mit den Intrigen von Leos Rivalen Wassili (Joel Kinnaman) ein zweites Thema lostritt. Eine sich derart allmählich entfaltende Erzählung wäre an sich zu begrüßen – würde mit der langsamen Narrative auch eine Komplexität einhergehen. Stattdessen bleiben die Figuren, abgesehen von Leo Demidow, sehr einseitig. Und auch die Beobachtungen über die Lebensart und Ideologie in der stalinistischen Sowjetunion sind zwar von thematischer Düsternis und Prägnanz, jedoch nutzten Price und Regisseur Daniél Espinosa («Safe House») die Laufzeit ihres Werkes nicht, um diesen Ansatz zu vertiefen. Früh wird eingeführt, dass das Regime seine Weltsicht mit aller Macht durchsetzen will und dass das Leben für Rangniedere und normale Bürger trostlos ist – und diese Note spielt «Kind 44» bis zum Ende durch.
Die Mechanismen, die Stalins Sowjetunion aufrecht erhalten haben, und die verzweifelten Versuche der Bürger, sich durch ihren Alltag zu ringen, werden derweil nicht beleuchtet – «Kind 44» kratzt also nur an der Oberfläche, nutzt sein Setting allein, um einen ungewöhnlichen Schauplatz für eine Mördersuche zu haben. Legitim, in diesem Fall aber misslungen, da eben dieser Kriminalplot erst nach einer ausführlichen Exposition beginnt – und dann mehrmals unterbrochen wird, um die vorab geleistete Charakterbildung Leos zu wiederholen. Ein erzählerischer Fluss kommt daher selbst im konzentrierteren Mittelteil kaum zustande, was wiederum die Spannungskurve niedrig hält.
Dadurch, dass sich das behäbige Skript in Monotonie übt, sind auch die meisten Darsteller verloren – sie haben schlicht zu wenig Material, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Von den Nebendarstellern kann allein Gary Oldman dem Drama mit einer routiniert-intensiven Perfomance seinen Stempel aufdrücken, während der lange verdeckte Darsteller des Kindsmörders zwar das Potential zeigt, etwas aus seiner Rolle zu machen, aufgrund seiner mickrigen Leinwandzeit bleibt er allerdings hinter seinen Möglichkeiten zurück. Tom Hardy indes ist in «Kind 44» zwar meilenweit davon entfernt, eine Karrierebestleistung abzuliefern, jedoch gibt er seiner Figur das nötige Selbstbewusstsein mit, um als stiller Widerständler gegen das Regimedenken zu überzeugen. Hardys schleichend an Starrheit verlierenden Gesichtszüge helfen zudem, die auf Skriptseite mehrmals mit dem Brecheisen erklärte Sinneswandlung seiner Rolle schauspielerisch und somit emotional nachvollziehbar zu gestalten.
Dies genügt aber nicht, um «Kind 44» inhaltlich an das solide bis gute Niveau seiner äußeren Gestaltung heranrücken zu lassen. Die ausschweifende, grimme Ausstattung und die milchig-nebligen Bilder dieses Historienfilms lassen den Zuschauer für die gesamte Laufzeit völlig in diese trostlose Welt abrutschen – ausgenommen von den raren, hektischeren Actionszenen, in denen rasche Schnitte und Wackel-Handkameraaufnahmen erfolglos versuchen, diesem Werk einen Puls zu verleihen.
«Kind 44» ist ab sofort in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.