Die Wahlnacht bei der BBC ist jedes Mal aufs Neue ein besonderes Ereignis: Ein Krimi der Exit Polls, Demokratie in Action in Sunderland South und erhabene Bilder vom Palace of Westminster. Julian Miller hat hingeschaut.
An Wahlabenden gibt das Wahlsystem die Dramaturgie vor. In Deutschland sorgt das personalisierte Verhältniswahlrecht dafür, dass bei der auf
Exit Polls basierenden ersten Prognose nach Schließung der Wahllokale um 18.00 Uhr schon das Allermeiste von dem klar ist, was an dem Abend klar werden kann. Die Prozentzahlen werden von Hochrechnung zu Hochrechnung im Regelfall nur noch sehr begrenzt schwanken. Der Krimi geht meist erst hinterher los und speist sich in der Wahlnacht allenfalls aus Mutmaßungen: Wer koaliert mit wem?
Ganz anders bei der Präsidentschaftswahl in den USA: Dort wird gemäß dem
Winner-takes-all-Prinzip Bundesstaat für Bundesstaat gewählt: Der Kandidat mit den meisten Wählerstimmen des jeweiligen Staates vereinigt all seine Wahlmännerstimmen auf sich: Wer zuerst 270 von 538 Wahlmännerstimmen auf sich vereinigen kann, gewinnt. Bedingt durch die vielen Zeitzonen, über die sich die USA erstrecken, und die damit einhergehenden unterschiedlichen Schließzeiten der Wahllokale sowie die in nicht wenigen Bundesstaaten knappen Ergebnisse, die lange keine eindeutige Prognose zulassen, erinnern amerikanische Wahlabende oft an den «Eurovision Song Contest»: Die Ergebnisse trudeln nach und nach ein, und bis alle Punkte vergeben sind, vergeht viel Zeit.
Exit Polls werden – spätestens seit dem
Florida-Debakel 2000 – nicht mehr als alleinige Grundlage für die Prognosen hergenommen.
Im Vereinigten Königreich, das am vergangenen Donnerstag ein neues Parlament gewählt hat, gelten wieder andere Rahmenbedingungen: das
First-Past-the-Post-System, das wie in den USA keine Zweitstimmen kennt: Wer in einem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält, zieht ins Parlament ein. Das sorgt für Verzerrungen: So erreichte die rechtspopulistische UKIP landesweit über 12% der Stimmen, wird aber nicht einmal 1% der Abgeordneten im Unterhaus stellen, während die Konservative Partei im Parlament die absolute Mehrheit haben wird, obwohl nur ein gutes Drittel der Briten sie gewählt hat.
Anders als in den USA – und ähnlich wie in Deutschland – lässt dieses System jedoch eine primär auf
Exit Polls basierende solide Prognose zu, sobald die Wahllokale geschlossen haben. Als David Dimbleby von der BBC sie pünktlich zum Zehn-Uhr-Schlag von Big Ben verkündete, fiel David Cameron wohl glatt die Gabel in den Hot Dog: Nicht nur würde seine Partei die klar stärkste Fraktion bilden können; er würde ebenso recht eindeutig Premierminister bleiben. Mit so einem eindeutigen Ergebnis hatte kaum jemand gerechnet.
Im Gegensatz zu deutschen Wahlabenden wurde anschließend viel über die Aussagekraft und Gültigkeit besagter
Exit Poll diskutiert: Besonders natürlich von Parteimitgliedern und –strategen von UKIP und Labour, die sich ihre unerfreulichen Wahlergebnisse schönreden wollten. Trotzdem waren ihre Argumente nicht ganz unangebracht: Denn da im UK keine Verhältniswahl stattfindet, können schon sehr kleine Abweichungen in einzelnen Wahlkreisen zu deutlich anderen Gesamtergebnissen führen. Nichtsdestotrotz: Die
Exit Poll der britischen Broadcaster bildete auch in diesem Jahr die realen Verhältnisse wieder sehr gut ab.
Schnell richteten sich dann alle Augen auf den nordostenglischen Wahlkreis Sunderland South, der seit fünf Parlamentswahlen den Rekord für den am schnellsten ausgezählten hält. Eine kleine
Eccentricity am Rande, aber auch der dramaturgische Auftakt für die nächsten Stunden: Denn anders als die deutschen Sender bei der Bundestagswahl gibt die BBC bei der Unterhauswahl anschließend die tatsächlichen Ergebnisse Wahlkreis für Wahlkreis durch, wann auch immer diese eben ausgezählt sind und verkündet werden. Parallel zur Einblendung der 22-Uhr-Prognose, die im Laufe der Nacht immer wieder den neuen Erkenntnissen angepasst wird, liefert man also auch eine – bis in den frühen Morgen freilich sehr überschaubare – Zählung der tatsächlich ausgezählten Mandate.
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UK-Election
Gleichsam zeigt sich die BBC als Freundin der Visualisierungen: Ein Hologramm des
House of Commons veranschaulicht die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse. Und natürlich sorgt der live zugeschaltete Glockenturm von Big Ben für einen Moment der nationalen Erhabenheit. Anders als die eher trockenen, im internationalen Vergleich seltsam steif und bürokratisch wirkenden Sendungen, die wir hierzulande erleben, wenn der Deutsche Bundestag gewählt wird, transportiert die Berichterstattung der BBC bei der Wahl zum Unterhaus stets auch eine Zelebrierung der Demokratie als solches und der starken, langen demokratischen Tradition des Landes.
Alle fünf Jahre schafft es die BBC aufs Neue, ihren zweifellos erstklassigen harten, analytischen Journalismus mit einer großen, auch emotional unterfütterten Begeisterung für die
Mother of Parliaments eine einnehmende Symbiose eingehen zu lassen, die bis in die frühen Morgenstunden nichts an Spannung verliert.
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